Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 920

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sei: als Demonstrationswaffe einer planmäßigen Aktion des organisierten proletarischen Zentrums oder als historische Äußerung des revolutionären Massenkampfes. Gegen den Massenstreik überhaupt spricht sich jetzt in Deutschland fast keiner der Politiker der Arbeiterbewegung aus. Aber die Idee des Massenstreiks selbst füllt jede der Richtungen mit einem anderen konkreten Inhalt.

So rückte das Massenstreikproblem nach und nach ins Zentrum des geistigen Lebens und des geistigen Interesses der deutschen Sozialdemokratie, und es wird aller Wahrscheinlichkeit nach diesen Platz noch eine längere Zeit einnehmen. In ihm kreuzen sich wie im Focus alle strittigen Fragen der deutschen Arbeiterbewegung: über den Parlamentarismus und die unmittelbare Rolle der Massen; über den politischen und den ökonomischen Kampf des Proletariats; über Bedeutung und Rolle der Organisation; über die Planmäßigkeit und Spontanität der Arbeiterbewegung; über friedliche Taktik und Zusammenstöße mit der bewaffneten Macht der herrschenden Klassen; über allmähliches „Hineinwachsen“ in eine sozialdemokratische Ordnung und revolutionäre „Sprünge“ in der Entwicklung des Klassenkampfes. Und schließlich – last, not least – im Verhalten gegenüber dem Massenstreikproblem in Deutschland spiegelt sich heute das eine oder das andere Verhalten gegenüber dem Kampf des Proletariats in Rußland: der Glaube an seinen zukünftigen Sieg – oder der Unglaube daran; das Gefühl der engsten Verbundenheit des westeuropäischen Proletariats mit diesem Kampf – oder das hochmütige Überlegenheitsgefühl der „zivilisierten“ Arbeiterbewegung gegenüber den verzweifelten Versuchen, gerade mal die ersten rechtlichen Voraussetzungen einer rechtmäßigen Existenz zu erringen. Mit einem Wort, die Frage nach dem Massenstreik wurde zum Symbol einer ganzen Weltanschauung in der deutschen Arbeiterbewegung.

Deshalb sind die Debatten über diese Frage nicht ohne Interesse für das kämpfende, bewußte Proletariat Rußlands. Aber diese Debatten haben zweifellos unter einem bestimmten Aspekt auch noch eine besondere Bedeutung für die Arbeiterpartei in Rußland. Die russischen Sozialdemokraten sind bekanntlich, im Gegensatz zur polnischen Sozialdemokratie, der Meinung, daß die Gewerkschaften nicht unter der sozialdemokratischen Parteifahne geschaffen werden bzw. stehen sollen, sondern auf dem Boden der politischen „Neutralität“. Dabei berufen sich die russischen Genossen, wie auch in vielem anderen, gerne auf die deutsche Sozialdemokratie und die gewaltige Entwicklung ihrer „neutralen“ Gewerkschaften, wobei sie ganz aus dem Blick verlieren, daß die „Neutralität“ der deutschen Gewerkschaften durchaus kein Ideal und kein vorsätzliches taktisches Ziel der Sozialdemokratie ist, sondern ihr vom reaktionären polizeilichen Terror der Zeit des Sozialistengesetzes aufgedrängt wurde; daß die deutschen Gewerkschaften das Kind nicht einer revolutionären Epoche sind, sondern der politischen und sozialen Bedingungen während einer dreißigjährigen bourgeoisen Parlamentsepoche. Schon diese zwei Umstände müßten eigentlich voll genügen, um die russischen Sozialdemokraten von der sklavischen Nachahmung der deutschen Bewe-

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