Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 919

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schaften zur Partei selbst einer Revision unterzogen. Es wurde der Wunsch geäußert, eine „neue Theorie“ der Gewerkschaftsbewegung zu schaffen, unabhängig von der Theorie des Klassenkampfes und vom Marxismus.

Das Publikmachen dieses Protokolls rief verständlicherweise die lebhaftesten Debatten über das Verhältnis von politischer und ökonomischer Organisation des proletarischen Kampfes hervor.

Andererseits entflammte erneut der Meinungskampf über den Massenstreik in Deutschland und seine Chancen im Januar des laufenden Jahres. Denn der Parteivorstand hatte sich, wie sich herausstellte, in der Beratung mit den Gewerkschaftsführern tatsächlich gegen die Ausrufung eines Massenstreiks ausgesprochen – natürlich nicht generell, sondern nur für diesen konkreten Fall, d. h. für die nächsten Monate; wobei allerdings verabredet wurde, daß, wenn ein Massenstreik doch noch ausbrechen sollte, seine Führung ganz und ausschließlich dem sozialdemokratischen Parteivorstand zufiele, die Gewerkschaften aber ganz und gar abseits bleiben sollten. Die materielle Unterstützung der Streikopfer jedoch sollte von Sozialdemokratie und Gewerkschaften getragen werden. In Wirklichkeit kam es in Deutschland bekanntlich weder zum Massenstreik noch zu Massendemonstrationen. Nur in Hamburg wurde im Januar ein halbtägiger Massenstreik durchgeführt[1], im Zusammenhang mit einer ganzen Reihe von Volksversammlungen, die ganz und gar erfolgreich waren und zu großer Begeisterung in der gesamten Arbeiterbevölkerung Hamburgs führten.

Aber sonderbar: Sobald der Beschluß des Parteivorstandes über die im Frühjahr zu erwartenden Massenstreiks und Demonstrationen bekannt wurde, kam es ausgerechnet in den Reihen der Erzopportunisten zu einem Riesenlärm wegen des „schändlichen Rückzugs“ der Partei. Alle diejenigen, die ein Jahr zuvor äußerst skeptisch den Lehren und Beispielen der Befreiungsbewegung in Rußland gegenübergetreten waren, zogen nun zornig gegen den Parteivorstand zu Felde, weil er in Preußen keinen Massenstreik „gemacht“ habe, mit dem Ziel, eine Reform des Landtagswahlrechts zu erreichen. Die „Vorwärts“-Redaktion, Kautsky, überhaupt der linke Flügel waren jetzt veranlaßt, die Haltlosigkeit der Hoffnungen auf das Entflammen des Massenstreiks in Deutschland für ein [neues] preußisches Wahlrecht nachzuweisen. Henriette Roland Holst bemühte sich in der „Neuen Zeit“, die Ergebnislosigkeit der Frühjahrsgärung mit dem zeitweiligen Abflauen der revolutionären Woge in Rußland zu erklären, wodurch die revolutionäre Stimmung der Massen in Westeuropa abgenommen habe. Die Streitenden, so schien es, wechselten die Rollen. In Wirklichkeit aber hat sich nur der Gegenstand der Diskussion verändert; statt der Frage für oder gegen den Massenstreik stellte sich nun die Frage, wie der Massenstreik zu verstehen

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[1] In Hamburg hatten am 17. Januar 1906 80000 Arbeiter die Arbeit niedergelegt, um in Versammlungen und mit Straßendemonstrationen gegen die Einschränkung des Bürgerschaftswahlrechts zu protestieren. Es war der erste politische Massenstreik in Deutschland. Dabei war es zu Zusammenstößen zwischen Arbeitern und der Polizei gekommen.