Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 873

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‚Vor Tisch las man’s anders‘, mit dieser tiefsinnigen Andeutung glaubt der ‚Vorwärts‘ mich bei seinen Lesern verdächtigen zu sollen, als hätte ich meine Stellung zu unserem Zentralorgan in einer unmotivierten Weise geändert. Mit einem Quintchen Gerechtigkeitsliebe hätte er seinen Lesern Kenntnis geben müssen, weshalb ich jetzt anderer Ansicht über das weitere Bestehen des ‚Vorwärts‘ als Zentralorgan bin, ich glaube das in meinem Artikel deutlich genug ausgeführt zu haben.

Gewissenhaft registriert der ‚Vorwärts‘ alle Parteiskandale seit Adams Zeiten, um zu beweisen, daß die letzten Vorkommnisse im ‚Vorwärts‘ noch schlimmere Vorgänger gehabt hätten. Das mag richtig sein. Aber so giftig, persönlich verletzend waren sie nicht, wie es jetzt bei uns in steigendem Maße Praxis wird. Auch unter Liebknecht saß der ‚Vorwärts‘ schon auf der Anklagebank. Es sei hier nur an einen Fall erinnert.“

Ehrhart zitiert dann die Rede Liebknechts auf dem Parteitag in Gotha 1896[1] und fährt fort:

„Diese Worte treffen auch auf die heutigen Verhältnisse zu. Damals hat man keine Redakteure an die Luft gesetzt, und die Partei ist trotzdem nicht zugrunde gegangen. Unsere heutigen führenden Genossen verfolgen eine entschiedenere Taktik innerhalb der eigenen Reihen.

Unsere Genossen im ‚Vorwärts‘ trösten sich mit den ‚Skandalen‘ in der Partei; denn nach ihren Angaben haben sie der Partei stets zum Besten gedient. Nach ihrer Logik wäre ein Parteiskandal zur Befruchtung unseres Parteifortschrittes alljährlich nötig. Nach dieser neuen Anschauung dürfte allerdings manches begreiflich erscheinen. Jene Genossen, die die Kleinarbeit im Lande verrichten müssen, denken darüber freilich anders.

Meine lieben Genossen im ‚Vorwärts‘ empfinden eine gewisse Schadenfreude darüber, daß ich während der letzten 15 Jahre in fast allen ‚Parteiskandalen‘ eine ‚leidende‘ Rolle gespielt und stets bei den ‚Geprügelten‘ war. Das trifft zwar nicht zu, aber ich fühle keine Veranlassung, mich gegen einen solchen Anwurf zu rechtfertigen. Es genügt mir zu konstatieren, daß bei den mehrfachen Streitfragen jeder ältere Genosse, vorausgesetzt, daß er sich eine eigene Meinung bewahrte, das eine oder andere Mal auch bei den ‚Geprügelten‘ war. Die Schadenfreude unserer jetzigen ‚Vorwärts‘-Re-

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[1] Siehe Protokoll über die Verhandlungen des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei, abgehalten zu Gotha vom 11. bis 16. Oktober 1896, Berlin 1896, S. 99 ff. und 114 ff. – Im August 1896 war es in der Redaktion des Vorwärts zu einem Konflikt gekommen. Anlaß waren die ablehnenden Kommentare im Vorwärts zu dem Vorschlag von Max Quarck, die Gewerkschaften eine eigene, von der Partei unabhängige Sozialpolitik betreiben zu lassen. Wilhelm Liebknechts scharfe Reaktion gegen seinen Kollegen Heinrich Braun führte zu einer öffentlichen Konfrontation zwischen Liebknecht und den ürbigen Redakteuren, die das Eingreifen des Parteivorstandes notwendig machte. Nach mehrfachen Beratungen mit der Redaktion wurde der Beschluß gefaßt, daß in strittigen Fragen die Redaktionsmehrheit die Meinung des Vorwärts bestimmen solle. Die Minderheit könne ihre Ansichten mit Namensnennung vertreten. August Bebel informierte die Parteitagsdelegierten über diese Festlegung. Auf Beschluß des Parteitages fand vom 8. bis 9. November 1896 in Berlin eine Konferenz zur sozialdemokratischen Pressearbeit statt. Siehe Parteitagsprotokoll Gotha 1896, S. 12, 65 ff. und 80 ff.