Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 859

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Generalstreik und Straßenkämpfe in Südrußland

Petersburg, 27. Dezember. Die „Petersburger Telegraphen-Agentur“ verbreitet folgende Meldungen: In Charkow begann am 25. d. M. der allgemeine Ausstand. Gegen die Fabrik Helfreich, wo die Arbeiter sich eingeschlossen hatten, feuerte Artillerie zwei Schüsse ab, durch die die Mauer zerstört wurde. Von der Lokomotivfabrik eilten Arbeiter herbei, um ihre Kameraden zu entsetzen und warfen zwei Bomben. Auch beim Bahnhof und im Mittelpunkt der Stadt kam es zu bewaffneten Zusammenstößen. Nach amtlicher Meldung wurden neun Personen getötet, mehr als 200 verwundet und 138 verhaftet. Die Nacht verlief unruhig. – In Odessa brach gestern ein Ausstand aus. Selbst die Apotheker sind ausständig. Im Hafen ruht die Arbeit. Die Dampfer stellten ihre Fahrten ein. Güterzüge gehen nicht ab, die Personenzüge verkehren bis Schmerinki. Die Hafenarbeiter beschlossen, die Bevölkerung im Falle von Unruhen zu schützen. – Auf der Station Kasatin kam es zu einem Zusammenstoß zwischen Arbeitern und Truppen. Sechs Bahnangestellte wurden getötet, etwa 15 verwundet. – In Saratow dauern die Verhaftungen fort.

Kiew, 27. Dezember. Der Generalstreik ist gelungen. Die Fabriken, Schulen, die Pferde- und Eisenbahnverwaltungen streiken; auch die Zeitungen fehlen. Während drei der letzten Nächte drang Gendarmerie in die Wohnungen der angesehensten Familien und führte Haussuchungen durch. Die Massenverhaftungen werden fortgesetzt. Die Aufregung darüber ist so groß, daß das Publikum auf offener Straße zwei Spione tötete. Das Militär hält auf allen Straßen Wache. Die „Schwarze Horde“[1] ist in Bereitschaft gehalten; zwei Juden sind von ihr hingeschlachtet worden. Am Bahnhof erfolgte ein blutiger Zusammenstoß zwischen Revolutionären, Streikbrechern und dem Militär.

Blutige Kämpfe in Zentralrußland

Tambow, 24. Dezember. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Die Städte Tambow und Koslow und die dazu gehörigen Kreise sind als im Kriegszustand befindlich erklärt worden. Über 10 andere Städte und ihre Kreise wurde der Belagerungszustand verhängt. Der Brigadechef, Generalleutnant Klawer, wurde mit den Obliegenheiten des Generalgouverneurs betraut. Bei der Verhaftung einer bewaffneten Volksmenge wurden Bomben und Waffen beschlagnahmt.

Generalstreik und Straßenkämpfe im Kaukasus

Tiflis, 26. Dezember. Hier haben die Mohamedaner und Armenier Frieden miteinander geschlossen, dagegen dauert der Ausstand der Postbeamten noch fort und hat sich seit gestern zu einem allgemeinen Ausstand entwickelt. Die Sozialdemokraten haben sich der Eisenbahn bemächtigt. Der Verkehr ist aufs äußerste beschränkt. In anderen Orten finden zwischen Sozialisten und Kosaken Straßenkämpfe statt.

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[1] Die „schwarzen Banden“, „Schwarzen Hundert“, „Schwarzhundertschaften“ waren eine im „Bund des echt russischen Volkes“, nach dessen Spaltung 1908 auch im „Erzengel-Michael-Bund“, verankerte militant nationalistische und antisemitische Bewegung von Monarchisten. Sie agierten als bewaffnete terroristische Banden des zaristischen Regimes, ermordeten Arbeiter, Intellektuelle und zettelten Pogrome an. Sie setzten sich aus reaktionären Elementen des Kleinbürgertums, des Lumpenproletariats und aus Kriminellen zusammen.