Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 817

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Die übriggebliebene Mannschaft des „Otschakow“ war während des Kampfes ins Wasser gesprungen, und die am Seeboulevard versammelte Menge versuchte die Ertrinkenden zu retten, indem sie Boote aussandte. Die Behörden zeigten bei der Rettung anfänglich eine schamlose Haltung. Nicht nur, daß sie an der Rettungsaktion nicht den geringsten Anteil nahmen und kein Regierungsboot zur Verfügung stellten, sie versuchten auch auf alle Weise den Abgang der Privatrettungsboote zu verhindern. Es ist eine zweifellose Tatsache, daß eine Privatschaluppe, die verwundete Matrosen vom Torpedoboote „Nr. 270“ gerettet hatte und nach dem Ufer zurückkehren wollte, durch zwei Schüsse vom zarentreuen Kreuzer „Pamjat Merkurija“ in Grund und Boden gebohrt wurde, wobei Retter und Gerettete ums Leben kamen! Von den auf dem „Otschakow“ in Haft gehaltenen 33 Offizieren wurde niemand getötet. Dieselben wurden bald nach Beginn des Kampfes von Regierungsbooten gerettet. Nur späterhin, nach dem Kampfe, als bereits das Feuer auf dem „Otschakow“ um sich griff, hatten auch die Behörden ein menschliches Rühren verspürt und sandten Boote aus, um die ins Wasser gesprungenen Leute vom „Otschakow“ aufzufangen.

Auch andere empörende Einzelheiten des Kampfes müssen festgenagelt werden. Während der Kanonade befand sich auf dem Seeboulevard eine Menge von zirka 60 bis 100 Personen. Jemand aus der Menge entfaltete plötzlich eine rote Fahne. Sofort erdröhnten vom Panzerschiff „Rostislaw“ in der Richtung des Publikums zwei Kanonenschüsse, durch die glücklicherweise niemand getötet wurde, da die Geschosse erst in einer gewissen Entfernung vom Publikum platzten.

Um 4 Uhr 19 Minuten nachmittags begann nun ein regelrechtes Bombardement der Regierungsschiffe auf die Marinekasernen aus Maschinengewehren, das ununterbrochen 21 Minuten dauerte. (Bekanntlich haben die Telegramme der Zarenschergen und die gläubige bürgerliche Presse des Auslandes seinerzeit die Lüge verbreitet, daß die revolutionären Mannschaften das Bombardement auf die Stadt ausgeführt hätten! Die Red. des „Vorw[ärts]“.) Die Schüsse wurden sodann seltener, nur jede Stunde fielen vereinzelte Kanonenschüsse nach der Richtung der Marinekasernen hin. Gegen ½3 Uhr nachts zum Mittwoch wurden die Lasarew-Kasernen unter heftigem Kanonenfeuer gestürmt und um 4 Uhr früh mußten sich die Kasernen mit 1600 Freiheitskämpfern und mehreren Geschützen den Regierungstruppen ergeben.

„Otschakow“ brannte lichterloh die ganze Nacht. Keine Hand hatte sich gerührt, um den Brand zu löschen. Das Schiff mit den auf ihm zurückgebliebenen Kämpfern wurde dem furchtbaren Tod in den Flammen überlassen. Das düster-schöne Bild hatte Hunderte ans Ufer gelockt, die erschüttert dem Brande zuschauten und mit bangem Weh den vom Schiffe her ab und zu ertönenden Detonationen folgten. Mittwoch Morgen war der Brand beendet und der „Otschakow“ total ausgebrannt. Der Zar hatte die erste Seeschlacht seit zwei Jahren gewonnen…

Am nächsten Morgen war die Stadt Sewastopol wie ausgestorben; niemand wagte sich auf die Straße. Nur einige Unerschrockene öffneten ihre Läden, doch um 12 Uhr

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