Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 814

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auf die Haltung der Mannschaften war unverkennbar und ließ es nirgends zu Ausschreitungen kommen, die den Behörden den erwünschten Anlaß hätten geben können, „Ordnung“ zu schaffen. Die „Meuterer“ versuchten auf jegliche Weise ihre Friedensliebe zu betonen.

Am Sonntagnachmittag fand am Seeboulevard ein äußerst stark besuchtes Meeting statt, an dem diesmal auch Matrosen und Soldaten teilnahmen. Kapitän Schmidt hielt eine glänzende Rede, in der er zum zweiten allrussischen politischen Massenstreik aufforderte. Sonntag und Montag vergingen völlig ruhig.

Am Montag verbreiteten die revolutionären Matrosen einen Aufruf, in dem sie die Bevölkerung aufforderten, sich zu beruhigen und nicht den böswillig ausgestreuten Gerüchten zu glauben, als sei eine allgemeine Plünderung der Stadt beabsichtigt. Die Matrosen versicherten der Bevölkerung, daß die öffentliche Ordnung in vollem Maße aufrechterhalten und daß sie selbst zum Schutze der Einwohner bewaffnet in die Stadt einrücken würden, falls die „Schwarzen Hunderte“[1] es wagen sollten, eine Judenhetze oder eine allgemeine Plünderung zu veranstalten.

Dieser Aufruf machte auf die Bevölkerung den besten Eindruck und erweckte noch wärmere Sympathien für die kämpfenden Matrosen. Der ausgezeichneten Haltung der Matrosen wurde einmütiges Lob gezollt, und die in den Straßen vorübergehenden Matrosen wurden von vielen Einwohnern mit Händeschütteln, mit freundlichem Lächeln begrüßt. Die Stimmung war eine zuversichtliche und gehobene. Nichts deutete darauf hin, daß die Matrosenbewegung ein so blutiges Ende nehmen soll. Trotz alledem flüchteten viele Einwohner, eingeschüchtert durch die Ereignisse in Kronstadt und Wladiwostok,[2] nach den umliegenden Ortschaften. Der auf Anordnung des Polizeihauptmanns angesichts der Demonstration am 15. November erfolgte Ladenschluß, sowie insbesondere der am 27. November über die Festung Sewastopol verhängte Belagerungszustand trugen viel dazu bei, die erschreckten Einwohner noch mehr einzuschüchtern.

Unter den geschilderten Umständen kam der nunmehr in der Geschichte Rußlands denkwürdig gewordene Tag des 28. November heran. Es war Dienstag, ein klarer, sonniger Tag. Der Panzerkreuzer „Otschakow“ stand am Eingang der Außenreede, neben ihm vier Torpedoboote, die sich ihm angeschlossen hatten. In einer gewissen Entfernung vom „Otschakow“ stand das Panzerschlachtschiff „Panteleimon“ (der frühere „Potjomkin“). Bereits am Montag waren gegen 30 von den Matrosen verhaftete Marineoffiziere auf den „Otschakow“ gebracht worden, da man berechtigterweise annehmen durfte, daß die Anwesenheit der Offiziere die Regierung eher geneigt machen würde, eine friedliche Lösung des Konflikts herbeizuführen. Auch einige Beamte des Marineressorts, die sich während ihrer Dienstzeit mißliebig

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[1] Die „schwarzen Banden“, „Schwarzen Hundert“, „Schwarzhundertschaften“ waren eine im „Bund des echt russischen Volkes“, nach dessen Spaltung 1908 auch im „Erzengel-Michael-Bund“, verankerte militant nationalistische und antisemitische Bewegung von Monarchisten. Sie agierten als bewaffnete terroristische Banden des zaristischen Regimes, ermordeten Arbeiter, Intellektuelle und zettelten Pogrome an. Sie setzten sich aus reaktionären Elementen des Kleinbürgertums, des Lumpenproletariats und aus Kriminellen zusammen.

[2] Siehe Rosa Luxemburg: Die Wahrheit über Kronstadt. In: GW, Bd. 6, S. 691 ff.; dies.: Die Revolution in Rußland. In: ebenda, S. 709.