Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 77

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Daher bedeutet das Wachstum der Sozialdemokratie auch die wachsende Einheit im proletarischen Kampfe und nicht die wachsende Zersplitterung. Nicht das größere oder kleinere Maß der Unterdrückung, die diese oder jene Gruppe des Proletariats im Staate zu ertragen hat, nicht die Nationalität, sondern die Staatseinrichtungen, die politischen Grenzen bilden die Grundlage für eine gemeinsame sozialdemokratische Partei. Eine sozialistische Partei, die ihre Entstehung bloß speziellen Verfolgungen verdankt, schwebt einfach in der Luft. Das Aufkommen eines halbwegs gescheiten „Kurses“, der die nationalen Verfolgungen fallen ließe, würde genügen, um der Sonderorganisation der polnischen Sozialisten jeden Schatten einer Existenzberechtigung zu entziehen.

Unter diesen Umständen ist es denn auch nicht zu verwundern, daß sich die Sonderorganisation vom ersten Augenblicke an in eine schiefe, unklare Lage versetzt sah. Dies trat am grellsten in der Programmfrage hervor. Auf der vorjährigen konstituierenden Konferenz beschloß die junge Partei, erst auf dem diesjährigen Kongreß ein Programm ausarbeiten zu wollen. Ihr Delegierter zum Kölner Parteitag[1] erklärte zwar, die Polnische Sozialdemokratische Partei habe das Erfurter Programm angenommen. Tatsächlich aber hat die Partei bloß erklärt, auf dem Boden der allgemeinen Prinzipien des Erfurter Programms, d. h. auf dem Boden des Sozialismus, zu stehen. Und was geschah? Der diesjährige Kongreß in Breslau[2] hat die Programmfrage nicht einmal angeschnitten, die Frage war nicht einmal auf die Tagesordnung gesetzt worden. Warum? Aus dem einfachen Grunde, weil die schiefe Lage der Partei es ihr unmöglich macht, ein bestimmtes Programm anzunehmen. Sie zögert, das Erfurter Programm zu dem ihrigen zu machen, denn in diesem Falle würde ihre Lostrennung von der deutschen Partei unerklärlich erscheinen.

Sie kann aber auch nicht die Unabhängigkeit Polens als nächstes praktisches Programm aufstellen, denn sie fühlt wohl die Unmöglichkeit sowohl der theoretischen Begründung als auch der praktischen Durchführung dieses Programms. So kann die Sonderorganisation weder links noch rechts [sein] und steht als Partei ohne Programm da, ein Unikum, das am schlagendsten beweist, daß der sozialistische Kampf nicht auf Grund von nationalen, sondern auf Grund von politisch-staatlichen Unterschieden von gesonderten Parteien geführt werden kann.

Mit einem Wort, die Sonderorganisation der Sozialisten in Preußisch-Polen ist weder notwendig noch nützlich – sie ist überflüssig und schädlich. Die deutsch-polnischen Sozialisten sind mit ihrer Sonderpartei auf eine schiefe Ebene geraten. Sie müssen entweder immer weiter zum rein nationalen Standpunkt schieben oder aber entschieden Umkehr machen und zum rein sozialistischen zurückkommen. Wollen sie nicht

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[1] Delegierter der PPS zum Parteitag der deutschen Sozialdemokratie, der vom 22. bis 28. Oktober 1893 in Köln durchgeführt wurde, war Roman Nikulski.

[2] Der Parteitag der PPS für den von Preußen annektierten Teil Polens wurde am 25. Dezember 1894 in Breslau durchgeführt.