Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 759

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Die russische Revolution in englischer Beleuchtung

London, 29. November. Die englische Presse und besonders die Monatsrevuen zeigen sich bei wichtigen Anlässen und Begebenheiten fast immer groß. Groß – allerdings von ihrem Standpunkte, der ein liberaler ist. Aber die Traditionen des englischen Liberalismus sind in großen Zeitpunkten entstanden. Ihre Anhänger verstehen es deshalb, geschichtliche Ereignisse geschichtlich aufzufassen. In nichts fällt dies so auf, wie in ihrer Beurteilung der Sozialdemokratie. Es ist nicht die geringste Übertreibung zu sagen, daß die Taten der russischen Sozialdemokratie hier der sozialistischen Bewegung einen Glanz verliehen haben, wie noch nie zuvor. Dem Engländer imponiert immer die Kunst der Organisation, – der freiwilligen Organisation von politischen und sozialen Bewegungen und Parteien. Und unsere russischen Genossen sind die einzige organisierte Kraft in der russischen Umwälzung. Allein, es soll nicht verschwiegen werden, daß England jetzt in eine Stimmung gerät, wie sie sich bald nach Beginn der französischen Revolution im damaligen England Bahn brach. Der Geist Burkes erwacht.

In diesem Geiste und mit dem ganzen Können Burkes ist ein Artikel über „Europa und die russische Revolution“ im Dezemberheft der „Fortnightly“ geschrieben. Aber er enthält auch manche Gedanken, die für uns von Interesse sein dürften. Sie betreffen den politischen Massenstreik, den der Verfasser einfach den Generalstreik nennt. Nachdem er die wirtschaftliche Entwicklung Rußlands der letzten 15 Jahre beleuchtet und das Entstehen der Industrien und des Proletariats geschildert hatte, sagt er:

„Dies war die Lage, die die Methoden der neuen Revolution in Wirksamkeit setzte. Der Generalstreik, den die deutschen Sozialdemokraten in den letzten Jahren als die ultima ratio des Proletariats predigten, erschien vielen als eine abstrakte Spekulation, die eher die Satire als die Besorgnis der Hüter der bestehenden Ordnung erregte. In den letzten Tagen des Oktober erwies er sich aber in Rußland bei seiner praktischen Anwendung als ein höchst schicksalvolles und schreckliches Werkzeug in der politischen Agitation. Bis zu jenen Tagen hatte das Wort Gibbons, daß hunderttausend disziplinierte und schlagfertige Soldaten hundert Millionen zusammenhangloser Untertanen niederhalten könnten, noch wenig von seiner Geltung verloren. Eisenbahnen, Telegraphen und Telephone schienen in Rußland wie in Indien eher die Macht der Zentralgewalt gestärkt zu haben und sie befähigt, ihre Streitkräfte mit größerer Schnelligkeit an wichtigen Punkten zu konzentrieren und die Opposition zu erdrücken. In Rußland aber gelang es einer verhältnismäßig geringen Minderheit, mit einem Schlage die ganze Maschinerie zu paralysieren, von deren Funktion alle Operationen der Regierung abhängen. Die Städte Rußlands sind nur wie Punkte auf der Karte. Aber sie sind Verbindungspunkte – die Schrauben und Ringe, die den ganzen Staatsapparat zusammenhalten. Ohne diese fällt das ganze Gebäude der Bürokratie auseinander. Der Militarismus kann nicht mobilisiert werden, und es ist fraglich, ob man

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