Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 740

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vorkeuchte: „Wir gehen zusammen für Väterchen Zaren, wir sind gekommen, um ihn zu sehen, ihm unser Wort zu sagen, wir sind jetzt zusammen mit Euch und bilden ein Militär, eine freiwillige kaiserliche Leibwache. Diese roten Schurken werden wir noch unterkriegen und dann – wehe ihnen!“ – Alle diese Worte entrannen komischerweise durcheinandergemischt mit verschiedenen auserlesenen Schimpfworten seinem Munde und berührten schmerzhaft peinlich das Ohr. Ich blickte auf dieses Bild und begann laut zu lachen.

Der Offizier bemerkte das und wandte sich streng an mich: „Was suchen Sie hier?“

Ich blickte auf ihn, auf das Häuflein Lumpen, in freundschaftlicher Unterhaltung mit dem glänzenden Offizier und ging, ohne ein Wort zu verlieren, nach Hause. Lange noch erschollen im nächtlichen Dunkel Schreie des betrunkenen Gesindels.

Am nächsten Tage, also am 2. November, sah ich selbst in grimme Wut verfallene Gendarmen und Kosaken, wie sie, auf die Trottoire sprengend, friedlich passierende Personen und Gruppen mit unmenschlicher Rohheit mit Knütteln bearbeiteten.

In der Redaktion angelangt, empfing ich viele Augenzeugen und Verwundete, die mir über ähnliche Szenen Bericht erstatteten und sich über sie beklagten. Es kamen auch solide und wohlsituierte Personen, welche zufällig die Straßen passierend, von den Knutenhieben der Kosaken ereilt und verwundet wurden.

Das Trepow-System war augenscheinlich nach wie vor in Kraft. Die Erschienenen waren empört und entrüstet.

Warum, meine Herrschaften, entrüstet Ihr Euch so sehr? Nach den Geschehnissen des 22. Januar kann mich überhaupt nichts mehr in Entrüstung oder Verwunderung versetzen – erwiderte ich ihnen.

Aber bedenken Sie! Das alles geschieht, nachdem die Konstitution gegeben, nachdem Freiheit des Wortes, der Presse, Unantastbarkeit der Persönlichkeit und andere hoch klingende Worte gefallen, und nun wieder die Nagaika?! [Knüttel] – empörten sich meine Gesellschafter.

Erlauben Sie, erlauben Sie! Wir haben weder eine Konstitution noch Freiheiten, – wir haben einstweilen nichts als Versprechungen all dieser Wohltaten. Versprechungen aber hatten wir schon am 25. Dezember 1904,[1] und nach dem 25. Dezember 1904 folgte der 22. Januar 1905. So hier. Am 30. Oktober machte man uns Versprechungen und am ersten und zweiten November bekamen wir Nagaika und andere ähnliche angenehme Sachen. Worin sehen Sie hier Unlogisches? – überzeugte und beruhigte ich meine Gesellschafter. Sie waren böse auf mich, obwohl ich ihnen die Wahrheit sagte. Mit Recht haben wir schon lange den Glauben an verschiedene Versprechungen verloren; zuviel, bereits allzu viel wurden solche gemacht und nicht erfüllt. Von ganzer Seele aber war und bin ich stets überzeugt, daß schließlich doch die Stunde schlagen wird, – und diese ist nicht weit – in welcher all die Versprechungen

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[1] Am 17. November 1904 hatte in St. Petersburg eine Konferenz von Mitgliedern der Semstwos (Semstwo: 1864 im Zuge liberaler Reformen in Rußland eingerichtetes und bis 1917 bestehendes Organ lokaler Selbstverwaltung auf Gouvernements- und Kreisebene. In ihnen waren der Adel, die Städter und die Bauern vertreten.) stattgefunden, die Reformen im Rahmen der bestehenden Ordnung forderten. Daraufhin hatte die zaristische Regierung im Dezember 1904 eine Verordnung erlassen, in der die Erweiterung der Rechte der Semstwos versprochen wurde. Gleichzeitig kündigte sie an, alle Reform- und Verfassungsbestrebungen unterdrücken zu wollen.