Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 739

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wegung in Petersburg und Umgegend nahmen gegen zweimal 100000 Arbeiter teil. Und doch hatte man sich über Unordnungen nicht zu beklagen. Keinerlei Vergewaltigungen, keine Attentate auf Privateigentum, ungeachtet der sich rapid entwickelnden Armut und Not infolge Stockens jeglicher Einkunftsquellen. Die Führer der Bewegung wiesen unermüdlich auf die Notwendigkeit hin, unbedingte Ordnung zu halten. Das Gegenteil hätte den Polizisten gerade in die Hände gespielt. Die Bewegung hatte darum eine besondere ausschließliche Kraft. Man kann wahrlich mit Recht sagen: Lob und Ehre unserem Arbeitervolke! Allein trotz des taktvollen Verhaltens der Massen floß abermals Blut. Noch einmal erglänzte das Trepow-System in seiner vollen Macht und Herrlichkeit. Das japanische Prinzip des tapferen Generals, Patronen für das russische Volk nicht zu sparen, kam hier voll und ganz zur Geltung. Dank diesem humanen Prinzipe hatten wir wiederum eine Anzahl unschuldiger Menschenopfer zu beklagen. Ungeachtet dessen bleibt zu unserem tiefen Bedauern das scheußliche Trepow-System in voller Kraft. Jenes Trepow-System, das absichtlich Wirren im Volke hervorruft, um bei ihrer Unterdrückung sich auszeichnen zu können, – jenes Trepow-System, bei welchem eine halbwegs angehende bürgerliche Sicherheit auf den Straßen sowie zu Hause ausgeschlossen ist, und welches nur mit dem Sturze seines Urhebers verschwinden kann.

Spät am Abend war ich noch in der Redaktion.

Kommen Sie auf die Straße; jetzt bietet sich den Augen ein ganz anderes Bild dar. Die Arbeiter hatten sich bereits in ihre Wohnungen zurückgezogen. Die Stadt befand sich wieder in den Händen der Polizei und des „Schwarzen Hunderts“[1]. Welch eine Sauferei und Schlägerei!

An mich – erzählt mir mein Begleiter – traten soeben, sich gegenseitig an den Händen festhaltend, drei Lumpen heran und fragten mich derb: „Sag mal, steckst auch Du mit den ‚Roten‘ unter einer Decke? – sprich, wenn wohl, zertrümmern wir Dir allsobald die Schnauze.“

Ich stieß einen und alle drei Besoffenen fielen zu Boden. Wir gingen auf die Straße hinaus; dort johlten, schrien und rasten tatsächlich etwa ein halbes Hundert Stück betrunkenes Gesindel. Sie trugen Nationalfahnen. Die Wahrheit gestanden, war es schmerzlich, die russische Fahne in solchen Händen zu sehen. Ich näherte mich dem Winterpalast.

Eine Patrouille anführend, stand ein mit peinlicher Eleganz gekleideter Gardeoffizier mit sympathischem Gesichte; ihn umringte ein Haufe, der die Hymne zu hören verlangte.

An der Spitze des Haufens stand oder vielmehr schwankte ein typischer betrunkener Held aus dem „Schwarzen Hundert“, welcher heftig gestikulierend die Hand des Offiziers ergriffen hatte und sie fest drückend unzusammenhängende Worte her-

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[1] Die „schwarzen Banden“, „Schwarzen Hundert“, „Schwarzhundertschaften“ waren eine im „Bund des echt russischen Volkes“, nach dessen Spaltung 1908 auch im „Erzengel-Michael-Bund“, verankerte militant nationalistische und antisemitische Bewegung von Monarchisten. Sie agierten als bewaffnete terroristische Banden des zaristischen Regimes, ermordeten Arbeiter, Intellektuelle und zettelten Pogrome an. Sie setzten sich aus reaktionären Elementen des Kleinbürgertums, des Lumpenproletariats und aus Kriminellen zusammen.