Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 738

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Gasthause begegnete man einer anderen Manifestation. Sie bewegte sich unter einer dreifarbigen Fahne. Auf dieser standen folgende Worte: „Es lebe die Freiheit und der Kaiser.“ Ich näherte mich dieser Prozession. Ihrem Äußern nach konnte man mit mehr oder minderer Sicherheit behaupten, daß es lauter Krämer und Kleinbürger waren. Sie waren sehr aufgeregt. Augenscheinlich befürchteten sie Gewalttätigkeiten. Niemand jedoch fiel es ein, sich mit ihnen einzulassen. Aber das ergriff plötzlich einer von ihnen einen Knaben mit einem roten Bande am Arm und begann ihn zu schlagen, ihm das Band vom Arme reißend. Man nahm sich des Knaben an und es entstand ein Getümmel. Die dreifarbigen Fahnen wurden heruntergezerrt, in Fetzen gerissen und im Schmutze zertreten. Statt ihrer wurden rote gehißt. Die Demonstration setzte sodann ihren Weg fort. Außer diesem Vorfalle, welcher, wie man sagt, sich noch dreimal wiederholt haben soll, herrschte eine musterhafte Ordnung. Eine Demonstration folgte der anderen. Man begegnete einander und beglückwünschte sich. An der Kasaner Kathedrale fand unter dem Dach einiger Hundert roter Fahnen ein Meeting statt. Es wurden begeisterte Reden gehalten. Gegen fünf Uhr vereinigten sich alle Demonstranten und stellten einen grandiosen, noch nie gesehenen Anblick dar. Es war tatsächlich ein erhabenes Bild: Tausende und abermals tausende Menschen standen mit entblößten Häuptern unter dem roten Fahnen-Baldachin. Weder Schutzleute noch Kommissäre waren sichtbar. Möglich, daß darum eben eine so musterhafte Ordnung herrschte.

Man sah keine Betrunkenen und vernahm keine, die Feierlichkeit des Tages störenden Laute. Sich an den Händen haltend, als wollten sie ihre Einheit befestigen, bewegte sich in gleichmäßigen Reihen, vereinigt mit der lernenden Jugend, das Proletariat. Hier und da ertönten Freiheitslieder und -rufe aus den dichten Massen. Endlich war man an den Annitschkower Palästen angelangt. Wie auf Kommando blickte niemand auf sie. Hier schien es, als erklängen die Töne noch mächtiger, feierlicher und selbstbewußter als je zuvor. Ich warf einen Blick nach rechts; schwarz und leer, düster und sehnsüchtig blickten die einsamen Fenster des herrlichen Palastes des Großfürsten Sergei Alexandrowitsch auf die sich unter ihnen bewegende Masse roter Fahnen, die sich feierlich und langsam vom Winde entfaltet fortbewegten. Während der ganzen Zeit vernahm man Forderungen aus der Menge, man solle sich ungesäumt zu den politischen Häftlingen begeben und diese befreien. Die Leiter der Bewegung weigerten sich jedoch, diese Forderungen zu bewilligen, indem sie die Masse zu überzeugen suchten, daß diese Befreiung unbedingt auf friedlichem Wege erfolgen müsse; nur im äußersten Falle sei zu den Waffen zu greifen. Jetzt aber werden die Forderungen der unbewaffneten Masse mit Bajonettstichen und Kugelhageln beantwortet werden.

Hierauf machte das Meeting kehrt und begab sich in voller Ordnung nach der Universität, von wo alle erst spät in die Nacht hinein auseinandergingen. Dieser Tag als auch überhaupt alle vorhergehenden bewiesen klar und deutlich das Zielbewußtsein und die treffliche politische Erziehung des Proletariats. An der ganzen Streikbe-

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