Es hielten noch gar viele Menschen Reden. Darauf begab man sich nach der „Morskaja“; voran flatterte die rote Fahne.
„Halt! Halt!“ – und man blieb stehen. Das war ein bewegendes Meeting. Ein anderer Redner ergriff wieder das Wort. Hinweisend darauf, daß dies erst der erste Erfolg war und daß uns jetzt noch ein großer, hartnäckiger und schwerer Kampf bevorstehe, schlug er vor, hier zur Stelle den Gefallenen und Umgekommenen zu schwören, daß niemand die Waffen niederlegen wolle bis ein völliger Sieg errungen sein wird. Alle erhoben die Hände: „Wir schwören! Wir schwören!“ – ertönte es brüderlich in der Luft. Das Meeting setzte sich wieder in Bewegung. Man begegnete Schutzleuten, welche vielen kamerad- und freundschaftlich die Hände drückten, sich gegenseitig erklärend, daß sie sich nunmehr keine Feinde seien. Und wieder wurde „Halt!“ gerufen. Das Meeting blieb stehen. Ein Redner wurde emporgehoben; er wies darauf hin, daß, während wir hier die Freiheit begrüßen, viele ihrer Verteidiger bis jetzt noch in den feuchten düsteren Gefängnismauern der Befreiung entgegenschmachten… „Nicht eher werden wir zur Arbeit schreiten, als bis man uns unsere Freunde und Freiheitsgenossen wiedergegeben hat.“ Nein, nein! Erwiderten alle wie aus einer Kehle. Die rote Fahne schwankte und setzte sich in Bewegung. Man langte auf dem Marienplatz an. Das rote Banner machte vor dem Denkmal Nikolaus I. halt. Es wurden wieder etliche Reden, unterbrochen von „Vorwärts“-Rufen, gehalten. Als letzter verlas ein Arbeiter ein Gedicht, in welchem betont wurde, daß man keine Opfer scheuen dürfe. „Der Wald wird ausgehauen; der Boden aber bedeckt sich mit neuem Samen und von neuem werden Reihen von Kämpfern über den Gräbern der gefallenen Brüder erstehen.“ Gleichsam als Antwort auf die letzten Worte erdonnerte aus Tausenden von Kehlen die Marseillaise. Die Bronzefigur des mächtigen Kaisers war in ein nächtliches Dunkel gehüllt. Das Meeting setzte sich wieder in Bewegung. Ich folgte ihm mit den Augen; die rote Fahne schwankte über den Häuptern und war noch sichtbar, bis sie in der hellen lichten Ferne erleuchteter Straßen verschwand…
Der erste November[1]
Freudig erwachte der zweite Freiheitstag. Ein fröhlicher Morgenstrahl erweckte die Stadt. Ich begab mich nach dem Newski-Prospekt, wo ich auch sofort einer Prozession begegnete. Eine kolossale Menschenmenge schritt in musterhafter Ordnung mit hoch aufgezogenen roten Fahnen nach der Richtung des Winterpalais. Man sang ununterbrochen Freiheits- und Arbeiterlieder. Der Gesichtsausdruck aller war ein fröhlicher und mutiger, ja sogar die erdfarbenen ausgenörgelten Gesichter der Arbeiter schienen mit Lebensfarbe bedeckt zu sein, als fühlten sie den Vorgeschmack eines besseren Lebens. Alle, die der Prozession begegneten, entblößten die Häupter. Auf den Fahnen las man u. a. die Aufschrift: „Wille und Erde dem Volke!“ Neben einem