Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 735

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Der Offizier gab das Signal zum Angriff.

„So möge er uns denn schlagen, wir aber gehen trotzdem zu Väterchen!“ schrien ihrerseits die Arbeiter.

Und wiederum wurde ins Horn geblasen.

Mit gezückten, hoch in der Luft blinkenden Säbeln, galoppierten die Soldaten direkt auf die Menge los.

Alle wichen zurück und drängten sich ans Gitter. Allein niemand entfloh. Die vorderen Reihen beugten demütig die Häupter, einige ließen sich auf die Knie nieder; unter den Letzteren befand sich eine Frau mit einem Säugling auf dem Arme.

„So mag er uns denn schlagen, wenn er das Kreuz verspottet!“ – vernahm man eine Frauenstimme – „wir aber erreichen trotzdem unser Väterchen.“

Da sprengten mit einem Mal im scharfen Galopp die Pferde an die Menge heran und blieben wie angewurzelt am Orte.

Die Soldaten konnten sich keineswegs entschließen, auf die demütig gebeugten Häupter der Arbeiter dreinzuschlagen; die Schwerter blieben in der Luft. „Wir sind doch in der Tat keine Henker, daß wir wehrlose Menschen morden sollen“ – dachten wahrscheinlich die Soldaten.

Und man fühlte es förmlich, daß niemand von ihnen das Herz hatte, diesen Wehrlosen und Unschuldigen ein Leid zuzufügen.

Im Gewühl blieb plötzlich mein Blick an dem Haupt eines Greises haften, dessen Hals lang hervorgestreckt war und die Adern sich auf demselben wie Strähnen abhoben. Er stützte sich auf die Knie eines vor ihm stehenden jungen Arbeiters; das Gesicht konnte ich nicht sehen. Ich sah nur einen langen dürren Hals, welcher aus einer braunen gestrickten Jacke hervorlugte. Auf der ganzen Linie des Halses konnte man ein Leben voll Not, Kummer und Elend lesen.

Zusammen mit anderen harrte der Greis.

Eine Totenstille herrschte auf dem Platze.

Alle erwarteten einen großen Moment. Das Gute schien das Böse überwunden zu haben. Doch da geschah etwas Wildes, Grauenerregendes, Scheußliches. …

Der Offizier schwang den Säbel und … und hieb auf den langen, dürren, demütig nach vorn gebeugten Hals des Alten ein. Der Greis schwankte und stürzte blutüberströmt zusammen. Er stieß mit dem Kopfe an die Erde und ich sah, wie der weiße Schnee sich von seinem Blute rot färbte.

Dieses hier diente als Signal. Die Soldaten begannen sofort die Säbel nach rechts und links zu schwingen. Die vorderen Reihen fielen, darunter auch die Frau mit dem Säugling. Die übrigen an das Gitter Gedrückten wußten in ihrer wahnsinnigen Angst nicht, wohin zu fliehen. Viele stürzten sich in die Moika, und man sah sie am Eise zerschellen.

Ihnen nach jagte mit gezückten Säbeln die vertierte Horde. Auf diese Seite wurde auch ich mit hingerissen. Ich hatte einen langen Pelz an und schritt langsam, mit der

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