Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 734

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Aus der Menge ertönten unaufhörlich Stimmen: „Henker! Opritschniki![1]* Schämt Euch! Eure eigenen Brüder mordet Ihr! Henker! Henker! Schämt Euch! Henker!“

Jedes dieser Worte sauste durch seine schneidende Gerechtigkeit wie Ohrfeigen dem neben seiner Kompanie stehenden Offizier direkt ins Gesicht. Doch jene stumpfe Natur empfand nur den Schmerz der zugefügten Beleidigung und nicht Scham darüber, daß diese wohlverdient ist.

„Auseinander mit Euch, sonst gebe ich Feuer!“ schrie er, augenscheinlich die Selbstbeherrschung verlierend.

„Henker! Henker! So schieß denn, Henker!“ erwiderte man ihm aus dem Haufen, ohne sich von der Stelle zu rühren.

Das Hornsignal ertönte. Die Soldaten schulterten das Gewehr.

Ein Teil des Volkes erbebte. Doch andere wieder beschwichtigten ihn, indem sie, in Ekstase geratend, schrien: „Halt! Halt, Brüder! So möge doch der Henker uns Unbewaffnete niederschießen, wir rühren uns nicht von dieser Stelle. Möge sich unser Blut über ihre Häupter ergießen! Henker! Henker! Ja, auf die eigenen Brüder! Henker! Henker!“ Viele erhoben die Arme und blieben wie versteinert in dieser Haltung.

Es krachte eine Salve.

Wie niedergemäht fielen Tote und Verwundete zur Erde.

Das Geheul der Verwundeten und Gestöhn der Sterbenden erfüllten die Luft. Alle, außer den Gefallenen, ergriffen die Flucht. Im Rücken der Fliehenden erscholl abermals eine Salve. Der Henker vollendete sein Werk.

Einige Stunden vorher jedoch, noch am selben Tage und selben Orte, hatte sich eine noch entsetzlichere Szene vor meinen Augen abgespielt.

Gegen ein Uhr mittags ritt eine Garde-Eskadron in weißer Uniform, einer auf der Petschewskyschen Brücke sich versammelten Arbeitermenge entgegen.

Vor ihr trennte sich ihr Offizier, der voran ritt und mit donnernder Stimme die Arbeiter aufforderte, auseinanderzugehen. Hierauf schritten einige Arbeiter aus der Menge, entblößten ihre Häupter und wandten sich grüßend an den Offizier: „Euer Wohlgeboren! Wir sind hierher zum Zaren, wie zu unserem leiblichen Vater gekommen, um ihn um Hilfe anzuflehen, und ihm unsere Petition zu Füßen zu legen. Weiß Gott, wir beabsichtigen nichts Schlechtes. Wir sind mit unseren Frauen und Kindern gekommen!“ Sie wiesen dabei auf die hinter ihnen stehende Masse, in welcher sich tatsächlich viele Frauen und Kinder befanden.

Abermals wiederholte der Offizier den strengen Befehl, auseinanderzugehen.

„Wir können nicht von dannen gehen, ohne unsere Bitte um Milderung der Not und des Elends unserem Väterchen Zar unterbreitet zu haben, denn wir nahmen uns darauf gegenseitig das Versprechen ab“ – erwiderten demütig, jedoch entschlossen, die Arbeiter.

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[1] * Schergen Johann des Schrecklichen.