Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 733

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fer getaucht, mit Schmach und Verachtung bedeckt sind, erst dann beginnt der Boden unter ihren Füßen zu schwinden, und sie geben aus ihren schwachen Händen die Macht, welche das Volk dann in seine reinen unbefleckten Hände nimmt. Wenn unsere Reichs-Aushälter den Spuren verschiedener Abenteurer und Vagabunden, wie z. B. Besobrasow, des ehemaligen Statthalters im Fernen Osten, Alexejews und anderen gefolgt wären, die chinesischen Boden mit Volksblut getränkt, hätten sie es hier getan, hierzu auf russischem Boden gezwungen, verteidigend ihre edle Existenz im Rücken des unterdrückten Volkes. Jetzt aber ist das unschuldige Volksblut, das im Fernen Osten vergossen worden, zu uns hinübergeflossen, das Volksherz mit seinen roten Wellen überschäumend, entzündete es seinen heiligen Zorn und schlug mächtig in die schamlosen Fenster prachtvoller Paläste.

„Richtig! – das ist wahr!“ – erwiderte mir mein Begleiter.

„Zurück! Zurück! Das Weiterfahren ist nicht gestattet!“ – bedeutete uns die Polizei an der Brücke.

Wir verließen die Kutsche und gingen zu Fuß. Hier erblickten wir Kosaken mit Nagaiki (Knüttel), Gendarmen, Kommissäre und Revieraufseher, Patrouillen, ja, alles roch hier noch nach Fäulnis, Moder und Verwesung des alten Regimes.

Das Gerücht erwies sich als wahr. Eine Bombe war von der Straße her von einem Unbekannten geworfen worden, der aber schnell entwischte. Hierauf eröffnete das Militär ein grausames Feuer auf die Fenster der Universität, hinter welchen sich unschuldige Menschen befanden.

Wir kehrten in die Redaktion zurück und trennten uns erst gegen vier Uhr, da niemand von uns Lust hatte, früher fortzugehen.

Und dennoch ist es originell! Fast ganze anderthalb Jahre hindurch harrte und schmachtete das ganze freidenkende Rußland nach der Auferstehung, in den düsteren, feuchten Gefängniszellen, unter sorgfältiger Aufsicht der Plehweschen Schergen.[1]

Und jetzt! … Doch was ist das für ein Gesang?! – der jäh meine Gedanken unterbricht.

An der Polizeibrücke hatte sich eine ungeheure Menschenmenge angesammelt, die mit entblößten Häuptern harmonisch und andächtig ein Lied zum Gedächtnisse an die am 9. [22.] Januar gefallenen Opfer[2] erschallen ließ. Wie ein Panier wehte die rote Fahne in der Luft. Zu der Zeit befand ich mich am selben Orte. Die schwermütigen Klänge des Gebetes weckten in meinem Hirne grauenhafte Bilder wach. Es war gegen fünf Uhr abends. Dunkel, auf der Brücke hatte sich eine Kompanie Soldaten postiert, vor welcher sich eine ungefähr 300köpfige Volksmenge versammelt hatte. Erst kurz vorher hatten seitens des Militärs am Alexandergarten, an der Petschewskyschen Brücke und anderen Orten schreckliche Metzeleien stattgefunden.

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[1] Wjatscheslaw Plehwe war seit April 1902 russischer Innenminister und als schroffer Gegner liberaler Bestrebungen am 28. Juli 1904 Opfer eines Attentats des Sozialrevolutionärs Jegor Sasonow geworden.

[2] Gemeint ist der Beginn der russischen Revolution, als am (9.) 22. Januar 1905 in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift zogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven empfangen, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus.