Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 678

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/678

lichen Leben, daß jeder, der an der Oberfläche des politischen Lebens steht, diese Erscheinungen fühlen muß, mit Gewalt wird man mit der Nase darauf gestoßen, daß unsere bisherigen Kampfmittel haben unzulänglich sich erweisen werden.[sic!]

Die deutsche Sozialdemokratie steht heute an der Spitze der internationalen Sozialdemokratie, der internationalen Arbeiterbewegung. Sie ist bis jetzt die Schule, das Muster für das Weltproletariat, das sich aus der Sklaverei des Kapitalismus befreien will. Aber täuschen wir uns nicht, die großen Erfolge, die wir erkämpft haben, die Gediegenheit unserer Arbeiter, die Vortrefflichkeit unserer Organisationen, das alles ist groß geworden auf dem Boden des parlamentarischen Kampfes. Ich sage das nicht als Vorwurf ihnen gegenüber, daß sie sich in jeder Weise dem historischen Boden anpaßten, auf den sie gestellt worden sind. Wir haben bis jetzt in Deutschland eine große Periode des Parlamentarismus gehabt, und die Sozialdemokratie hat vor aller Welt gezeigt, was eine klassenbewußte Arbeiterschaft auf dem Boden des Parlamentarismus erreichen und erzielen kann. Aber was erleben wir in den jüngsten Tagen, wir erleben es, daß hier und da gerade die parlamentarische Bourgeoisie unter den Füßen wie eine große dünne Eisschicht zusammenbricht, und das beweist, daß es eine dünne oberflächliche Schicht war. Nach wie vor finden wir die gewaltigen sozialen Kämpfe, wie sie in der Erde brodeln und lodern.

Ihnen hier in Hamburg der großtuenden Bourgeois, der berühmten Republik gebrauche ich nicht viel darüber zu sagen, was wir heutigen Tages von dem Wert des bürgerlichen Parlamentarismus zu halten haben. Als ich jüngst über den Vorwärtssturm der allgewalten Bourgeoisie in dem Geldsack-Parlament der Hamburgischen Republik hörte, da erinnerte ich mich lebhaft an die Worte des großen deutschen Dichters Börne, wie er die Frage stellte: Wie kommt es, liebe Mitbürger usw., in Deutschland leben wir ja in einer ähnlich verkehrten Welt. Auch ein anderer deutscher Patriot, der Dichter Heinrich Heine, hat über den Erdenkreis, die verkehrte verhaßte Welt geschrieben, indem er sagte, heute leben wir in einer Welt, wo Gäule auf Menschen reiten. In Hamburg erleben wir schon die Rückwärts-Revision des Parlamentarismus, und andere Staaten werden nachfolgen; ich erinnere an das demokratische Lübeck. Wir Preußen sind so stolz, daß wir das nicht einmal den Hamburgern nachmachen, wir sind schon längst so weit.

Schon die jüngsten Erscheinungen, die jedem einfachem Beobachter sich gewaltsam aufdrängen, führen uns darauf, daß unsere ganzen Berechnungen und Spekulationen auf den Parlamentarismus einfach auf einem Sandhaufen errichtet sind. Wir haben nicht nur im politischen Leben, sondern auch im sozialökonomischen Leben in den jüngsten Tagen Ereignisse erlebt, die uns darauf hinweisen, daß man geradezu mit Blindheit geschlagen werden muß, um nicht zu fühlen, daß nicht einmal der Boden unter unseren Füßen nicht mehr feststeht, sondern zu wackeln beginnt. Im Ruhrgebiet und in der Textilindustrie im Vogtland hören die sozialen Kämpfe nicht mehr auf zu toben. Wir stehen auf dem Boden des Konflikts, und dieser Konflikt kann

Nächste Seite »