Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 675

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sich denn aber sicher, daß die Massen den Massenstreik mitmachen würden? Ein ernsthafter Politiker werde sich hüten, diese Frage zu bejahen. Und ein ernsthafter Arbeiterpolitiker lasse sich auf bedenkliche Experimente nicht ein. Wie viele von den drei Millionen Wählern werden dem Rufe folgen? Ja, wie viele seien denn davon organisiert? So lange das nicht feststehe, so lange lasse man die Hände vom Spiel! Außer den drei Millionen gebe es aber noch acht, neun Millionen uns fernstehende Proletarier. Wisse man, ob diese auch nur zu einem guten Teile für die Generalstreikidee zu gewinnen seien? Und wie stehe es mit den zahllosen proletarischen Kleinhandwerkerexistenzen? Es sei doch lediglich vage Kombination, daß die eintretende wirtschaftliche Zerrüttung sie der Idee zutreiben werde! Wie stelle man sich endlich die Wirkungen vor? Woher wolle man die Lebensmittel nehmen? Wie könne man sich nur in eine so töricht-wahnsinnige Idee verrennen?“ Solche Auffassung findet ihr Gegenstück doch eigentlich nur in dem Beschluß, den eine bayerische Behörde vor über 50 Jahren faßte, wonach der Eisenbahnverkehr aus hygienischen und anderen Gründen nicht zuzulassen sei. Und die Berechnungen, erst bei der und der Zahl organisierter Arbeiter sei der Gedanke an den allgemeinen Massenstreik angebracht, wird gerade durch die russische Revolution widerlegt, in der wir ein größtenteils noch ungeschultes Proletariat kämpfen sehen. Unter Umständen kann sogar die höchste Ausbildung der Organisation ein Hindernis der Bewegung werden, wie wir es an den fossilen Gewerkschaften Englands sehen. Aus dem gepredigten Bedürfnis der „Ruhe behufs Entwicklung“ kann sehr leicht die Neigung entstehen, aus der Ruhe in die Versumpfung überzugehen. Was dann aber mit den moralischen Bedenken, mit der Phrase, man könne vielleicht „die Masse nicht mehr im Zügel halten“? Das ist ein echter und rechter Staatsanwaltschaftsgedanke, ausgehend von der Auffassung, die Masse sei eine Bestie, die gezügelt werden müsse. Gerade die Revolution hebt doch das Niveau der Masse! Weiter die Besorgnis um die Möglichkeit der Verproviantierung! Das russische Proletariat hat uns gezeigt, wie es gemacht wird; kalte Kalkulatoren, wie einzelne der in unserer Partei befindlichen Gegner des Massenstreiks, werden allerdings das Exempel nicht lösen können, das die russischen Revolutionäre gelöst haben. Und was die Ertragungsfähigkeit der Arbeiterklasse anbelangt: Hat nicht 1848 das französische Proletariat der Republik eine bestimmte Frist gewährt, während der es hungernd auf eine Besserung der sozialen Verhältnisse warten wollte? Die Antwort war allerdings die Junischlacht;[1] die Frist war nicht zu sozialem Wirken benutzt worden, sondern dazu, die Metzelei vorzubereiten. Ja, die Ereignisse, die Entwicklung der Revolution lassen sich eben nicht kalkulieren; eine Revolution ist kein Zivilprozeß. Uns darf es nur darauf ankommen, die kleinen Gesichtspunkte des täg-

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[1] Im Juni 1848 hatte sich das Pariser Proletariat erhoben, weil die französische Bourgeoisie die Nationalwerkstätten hatte schließen lassen. Etwa 113000 Arbeiter blieben dadurch ohne Arbeit und Einkommen. Bourgeoisie, Kleinbürger und Monarchisten standen geschlossen gegen den Aufstand, der nach drei Tagen von der militärischen Übermacht blutig niedergeschlagen wurde.