Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 674

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/674

Lassen Sie uns einen Ausflug machen in das Gebiet der auswärtigen Politik, wo ja – leider – tatsächlich unsere Hoffnung im gewöhnlichen Sinne des Wortes auf dem Wasser liegt; lassen Sie uns hinsehen auf die Kriege und Kämpfe in Ostasien. Da bemerken wir in Wirklichkeit einen neuen Brennpunkt der internationalen Politik, eine Verschiebung der Interessen, eine Entwicklung zur Weltpolitik, wie sie Marx vor Jahren voraussah. Dadurch sind die Schicksale der europäischen Staaten viel unkontrollierbarer und die Verwicklungen sind drohender geworden als je. Der eigentliche ostasiatische Krieg ist noch nicht zu Ende, er wird vielmehr der Ausgangspunkt neuer, für Europa schwerer Kämpfe werden. Die erste Folge werden Stärkung des Militarismus und für das Volk neues Anziehen des Hungerriemens sein. Daneben aber wird der Zusammenbruch aller Mittelschichten kommen, soweit er nicht schon erfolgt ist. Und dann wird ein gewaltiger Abgrund klaffen zwischen den zwei Klassen! Jetzt schon sehen wir das gewaltige Gewitter in Rußland; nicht mehr die Stütze der Reaktion, der Vorkämpfer der Revolution ist Rußland heute. An uns ist es, daraus die Lehre zu ziehen. Unter der Oberfläche des Kampfes um neue bürgerlich-liberale Formen der Staatsorganisation liegt die gewaltige Macht des Proletariats, das um eine neue Gesellschaftsordnung ringt. Siegen wird die russische Revolution; aber sollte sie nichts weiter erreichen, als die öde Tretmühle des bürgerlichen Parlamentarismus einzurichten? Nein, das künftige Rußland wird das soziale Gärungselement für ganz Europa werden! Einen Vorgeschmack davon haben wir schon in Österreich.[1] Mit zwingender Logik werden wir darauf hingeführt, daß die russische Revolution nur der Prolog der europäischen ist. Der alte historische Klepper muß und wird zum Galopp gezwungen werden, und dem Proletariat steht es zu, sich zu erinnern des Wortes von Marx, daß das Proletariat nichts zu verlieren habe als seine Ketten.[2] Ob aber die Sicherung des Wahlrechts oder andere Umstände die Kraftanstrengung des Proletariats herbeiführen werden, das steht dahin; möglich wäre es ja z. B., daß eine Hilfeleistung von gewisser Stelle für den russischen Absolutismus eine spontane Auflehnung der deutschen Arbeiter zur Folge haben würde. Gleichviel – über den Zeitpunkt oder die Voraussetzungen des konkreten Massenstreiks haben wir ja nicht zu diskutieren; wir haben an Rußland gesehen, daß er da, wo er nötig ist, von selbst ausbricht und Erfolge erzielt. Jedenfalls wissen wir, daß bei der heutigen Situation der Massenstreik die Vorbedingung der Massenaktion des Proletariats ist.

Da ist nun gerade hier in Hamburg von einzelnen in der merkwürdigsten Weise gegen die Idee des Massenstreiks operiert worden. War doch im Bericht des „[Hamburger] Echo“ über eine Rede wörtlich zu lesen: „Man bedenke doch, welche Unsumme Explosivstoff beim Massenstreik sich in den Gemütern anhäufe! Sei man

Nächste Seite »



[1] Im Oktober/November 1905 fanden in Österreich-Ungarn machtvolle Streiks und Straßendemonstrationen statt, die das allgemeine Wahlrecht forderten. Die Bewegung, an der Zehntausende Menschen teilnahmen, griff auf Mähren, Galizien, Krain, Tirol u. a. Gebiete über. Losungen der Sozialdemokratie, wie „Sprechen wir Russisch!“ und „Es lebe der Generalstreik!“ wurden aufgegriffen. Die Unruhen erfaßten auch die Armee und Flotte. Die Regierung versprach im Februar 1906, dem Parlament den Entwurf einer Wahlrechtsreform zu unterbreiten. Ein jedoch in vielerlei Hinsicht beschränktes Wahlrecht wurde schließlich im Januar 1907 verkündet.

[2] Wörtlich heißt es im „Kommunistischen Manifest“: „Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ MEW, Bd. 4, S. 493.