Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 644

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/644

öffentlichen Verhältnisse betrachtet, dem konnte der ursächliche Zusammenhang nicht entgehen, der bei uns zwischen dem Anachronismus des allzu eng bemessenen Stimmrechtes und der Sterilität des Parlaments besteht.

Denn was ist der charakteristische Zug der letzten Jahre des ungarischen Parlamentarismus? Einerseits, daß die dringendsten und lebendigsten wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Interessen vollkommen brachliegen und von der Volksvertretung keinerlei Berücksichtigung erfahren, andererseits aber, daß die teure Zeit des Landes auf unfruchtbare staatsrechtliche Debatten und auf zänkische Haarspaltereien vergeudet wurde. Daß der mittlere Grundbesitz verfällt, der kleine Grundbesitz vernichtet wird und die Zahl der zwerghaften Besitze in erschreckender Anzahl anwächst; daß von den dreizehn Millionen der agrarischen Bevölkerung Ungarns ganze zehn Millionen dem landwirtschaftlichen Proletariat angehören… Ein Parlament, aus dessen Wählerschar das Gros des Volkes künstlich ausgeschlossen ist, kann keine Empfänglichkeit für die wahren Bedürfnisse des wahren Volkes empfinden, und ein Parlament, welches sich nach unten nicht abhängig fühlt, fühlt sich auch jener Aufgaben der Volksvertretung enthoben, welche in der verständigen und liebevollen Pflege der Interessen der breiten Volksschichten besteht. …

Und eine Entwirrung, eine wirkliche Entwirrung, eine solche, welche nicht bei den Symptomen der Krankheit stehen bleibt, sondern bis zu ihren letzten Gründen hinuntersteigt und das Übel an der Wurzel heilt; eine solche Entwirrung kann einzig und allein eine solche Parlamentsreform bringen, welche das Parlament wieder den Volksinteressen und dem Volkswillen einfügt. Von der Ausübung der politischen Rechte kann niemand ausgeschlossen werden, der seine Pflichten gegenüber dem Staate erfüllt, und darum, meine geehrten Herren, hat die Regierung an die Spitze ihres Programms das allgemeine, geheime, gemeindeweise und unmittelbar auszuübende Stimmrecht gestellt…“

Zum Schluß sagte noch Fejervary: „In der Tat, es gibt keine nationale Größe ohne demokratischen und sozialen Fortschritt, und es gibt keine soziale und demokratische Entwicklung ohne die kluge und opferfreudige Entfaltung der nationalen Kräfte.“ …

Man wird vergebens in Preußen-Deutschland nach einem General suchen, der mit so viel Klugheit und Weisheit zu einer Versammlung zu sprechen vermöchte. Und Herr von Bülow?

Der ungarischen Sozialdemokratie folgte in ihrem Kampfe für das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht die österreichische Sozialdemokratie in der sogenannten cisleithanischen Reichshälfte. Und siehe da, kaum erhebt sie ihre Forderungen, so erklärt auch schon der österreichische Ministerpräsident, Herr v. Gautsch, die Regierung beschäftige sich mit einer Vorlage betreffend die Einführung des allgemeinen Stimmrechts.

Was der ungarische König dem ungarischen Volke als Rettungsanker aus der staatlichen und gesellschaftlichen Misere verspricht, kann der in der gleichen Person ver-

Nächste Seite »