Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 643

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Frankreich im Westen sind zwei Nachbarn, an denen die preußische Junker- und Polizeiherrschaft unausbleiblich in die Brüche geht. Tua res agitur! Um Deine Sache handelt es sich! Sagte vorahnend Herr Schönstedt, als er die russischen Polizeispitzel und die preußischen Justizgefälligkeiten für Rußland in Schutz nahm. Auch er gehört bald zu den Gewesenen.

Die Ereignisse in Rußland haben zunächst das Proletariat in seinen Nachbarstaaten in höchste Erregung gebracht. In Ungarn hat das bei der geringen großindustriellen Entwicklung verhältnismäßig schwache Proletariat, unter Führung der Sozialdemokratie, die schandbare Klassen- und Nationalitätenherrschaft der Magyaren ins Wanken gebracht.[1] Allerdings begünstigt durch einen Konflikt zwischen dem ungarischen König, dem Kaiser von Österreich, und der nach unumschränkter Herrschaft trachtenden ungarischen Aristokratie und Bourgeoisie.

In seiner Verzweiflung, in diesem Kampfe mit den geringen Kräften des ihm günstig gesinnten Restes der herrschenden Klassen nicht siegen zu können, kommt der alte Franz Josef nahe vor dem Ende seiner Tage auf den sublimen Gedanken, es mit dem allgemeinen Stimmrecht zu versuchen und den Teufel durch Beelzebub auszutreiben.

Kaiser Franz Josef und sein ungarisches Ministerium werden die Bundesgenossen der ungarischen Sozialdemokratie und ziehen nunmehr am gleichen Strange, in dem Bestreben, das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht in Ungarn für alle Klassen und Nationalitäten durchzusetzen. Da sage man noch, daß in der Weltgeschichte der Humor fehlt! Und als Vertreter des österreichischen Kaisers und ungarischen Königs tritt ein alter Haudegen, der General Freiherr von Fejervary, an die Spitze des Kabinetts, der sich wohl bisher weit mehr hätte träumen lassen, einmal an der Spitze seiner Soldaten mit blauen Bohnen gegen die Sozialdemokratie vorzugehen, als Arm in Arm mit ihr den Kampf gegen den ungarischen Hochadel und die Bourgeoisie aufzunehmen.

Aber der alte Haudegen hat sich überraschend geschickt in der neuen Situation zurechtgefunden und hat in den letzten Tagen des Oktobers eine Rede über das allgemeine Wahlrecht und sein Programm gehalten, die durch ihren Radikalismus frappiert.

Er führte unter anderem aus: „Die Frage der Parlamentsreform ist in der öffentlichen Meinung auf Grundlage der Erkenntnis gereift, daß diese Verhältnisse nicht nur vom Gesichtspunkt des politischen und gesellschaftlichen Gleichgewichtes unhaltbar sind, sondern noch mehr von jenem Gesichtspunkt aus, der als Lebensziel und Existenzbedingung des Parlamentarismus die zweckbewußte Pflege der Interessen, der Rechte, der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bestrebungen der weitesten Volksschichten anstrebt. Und wer mit sehendem Auge die Entartung unserer

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[1] In Ungarn hatte am 15. September 1905 ein eintägiger politischer Massenstreik stattgefunden, mit dem Straßendemonstrationen einhergingen, an denen sich etwa 100000 Menschen beteiligten. Im Oktober/November 1905 kam es in Österreich-Ungarn zu machtvollen Streiks und Demonstrationen für das allgemeine Wahlrecht.