Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 645

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körperte österreichische Kaiser dem Volke der anderen Reichshälfte nicht vorenthalten. Ereignisse haben ihre Logik.

Wenn aber in Rußland und in Österreich-Ungarn das Proletariat in der geschilderten Weise seine Bürgerrechte fordert, kann da die Arbeiterklasse in Preußen und Norddeutschland länger Gewehr bei Fuß stehen und sich von einem übermütigen Junkertum und einer protzenhaften Bourgeoisie ihre selbstverständlichstes Bürgerrecht vorenthalten lassen?

Will die Arbeiterklasse Preußen-Norddeutschlands – die süddeutschen Staaten haben bereits das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht, mit Ausnahme Bayerns, das mitten in den Beratungen für die Einführung dieses Wahlrechts für die Landtagswahlen steht – die an Intelligenz und politischer Bildung es mit jeder Arbeiterklasse der Welt aufnehmen kann und nach Zahl, Kraft und Leistungsfähigkeit für die ökonomische Entwicklung des Landes der erste Faktor ist wie nicht minder für die militärische und marinistische Macht – will diese Arbeiterklasse ferner der Paria im Staate bleiben?

Soll nicht diese Arbeiterklasse ihre gesunden Knochen zu Markte tragen, wenn die Fehler der Regierenden den europäischen Krieg entzünden, um ein Vaterland zu verteidigen, das ihnen als Rechtlosen gleichgültig sein muß. Wer Pflichten hat, soll auch Rechte haben. Sinnen doch wieder Regierungen und herrschende Klassen, wie die Lasten der arbeitenden Klassen abermals zu Ehren des heiligen Militarismus und Marinismus erhöht werden können. Obendrein in einem Augenblick, in dem uns die Bescherung des neuen Zolltarifs mit weiterer Erhöhung der Preise für die notwendigsten Lebensmittel bevorsteht.[1]

Es tritt also auch an die Arbeiterklasse Preußens und Norddeutschlands die Frage heran: Was nun?

Wohl werden die Arbeiter Preußens und Norddeutschlands nicht mit der gleichen Leichtigkeit wie die Arbeiter Ungarns und Österreichs in den Besitz des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts gelangen, aber der stärkeren Macht der Feinde steht auch ein ungleich stärkeres und politisch geschulteres Proletariat gegenüber.

Es handelt sich um einen Kampf mit friedlichen Mitteln um das erste und wichtigste Bürgerrecht. Wie dieser Kampf am besten und mit Erfolg geführt werden kann, ist Aufgabe spezieller Beratungen, welche die zuständigen Organisationen und ihre Leiter zu führen haben.

Vorwärts (Berlin,

Nr. 263 vom 9. November 1905.

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[1] Bereits im Februar/März 1901 hatte es gegen die Erhöhung der Getreide- und Fleischzölle eine machtvolle sozialdemokratische Protestbewegung gegeben, nachdem erste Einzelheiten des Entwurfs eines Zolltarifgesetzes und eines neuen Zolltarifs bekannt geworden waren. Danach sollten enorme Erhöhungen der Agrar- und einiger Industriezölle erfolgen, die für die Mehrheit der Bevölkerung auf eine wesentliche Verschlechterung der Lebenslage hinausliefen. – Am 5. Dezember 1901 hatte die sozialdemokratische Fraktion dem Deutschen Reichstag eine Petition gegen die geplante Zollerhöhung mit rd. 3,5 Mill. Unterschriften übergeben. Paul Singer hatte am 11. Dezember 1901 die ablehnende Haltung der deutschen Sozialdemokratie gegenüber der Vorlage des Bundesrates zur Erhöhung der Getreidezölle begründet und die mächtigsten Großagrarier als Urheber der Vorlage entlarvt. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion kämpfte dann vom 16. Oktober bis 14. Dezember 1902 noch einmal mit allen parlamentarischen Mitteln gegen die Gesetzesvorlage. In den 39 Sitzungen der zweiten und dritten Lesung ergriffen 30 sozialdemokratische Abgeordnete 250 mal das Wort. Zollgesetz und Zolltarif wurden am 14. Dezember 1902 mit 202 gegen 100 Stimmen gebilligt und traten ab 1. März 1906 in Kraft.