Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 636

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Dinge stehen; sie zeigen aber zugleich die Ohnmacht und Schranken der Gewerkschaftsbewegung.

Zwischen der Lage der Seidenweber von Lyon aus dem ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts und der unserer Gegenwart ist gar kein Unterschied. Wir sehen bereits den großen kommenden sozialen Kampf, dazu kommt noch die Rückwirkung der russischen Revolution, wie sich dies ja schon in Österreich zeigt.[1]

Die russische Revolution muß eine Verschärfung der Klassenkämpfe bringen, ob sie siegreich ist oder nicht. Bei einem Siege der Revolution kann sie gewiß kein sozialistisches Paradies schaffen, aber schon, wenn sie einen modernen bürgerlichen Rechtsstaat schafft, werden im Innern die Partei-, d. h. Klassenkämpfe mit scharfer Wucht einsetzen. Von da an wird aber auch der politische Kampf in allen modernen Ländern mit Sturmschritt vorangehen, wird er eine neue Ära für Europa eröffnen. Nehmen wir nun noch die internationale Verschärfung in Ostasien dazu, so gehen wir großen politischen Kämpfen entgegen. Der Kampf, wie ihn bisher die deutsche Sozialdemokratie geführt hat, war für alle anderen Länder vorbildlich, wir müssen uns aber bewußt sein, daß er nur auf Parlamentarismus zugeschnitten war, und uns auf diesem Gebiete die Macht sicherte. Mit der Verschärfung des Kampfes und der Anwendung neuer Mittel geht eine Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen der Masse draußen und den Vertretern vor sich. Das Bewußtsein der Massen, ihre Rechte auf der Straße erkämpfen zu müssen, macht es zu einer müßigen Frage, ob der Massenstreik für die Massen nützlich oder schädlich sei. Genauso überflüssig wird diese Frage werden, wie die früher diskutierte, ob man sich am parlamentarischen Leben beteiligen wolle.

Charakteristisch für die Bekämpfer des politischen Massenstreiks seien die Ausführungen Frohmes[2] in einer Hamburger Versammlung, wo er so eindringlich vor dem Spielen mit dem Feuer warnte, bei dem gegenwärtig so massenhaft angehäuften Zündstoff. All die Fragen, womit die streikenden Massen gespeist werden sollen usw. seien durch das praktische Beispiel in Rußland beantwortet.

Auch die Angst der Gewerkschaften, daß durch solche Kämpfe die Organisationen leiden oder gar ruiniert werden könnten, zeugten von der Unkenntnis derartiger historisch notwendig gewordener Kämpfe. Es sei schon ein bedenkliches Zeichen, daß man in der deutschen Gewerkschaftsbewegung die Form für die Hauptsache zu betrachten anfange. Die versteinerten Ungetüme der englischen Trades Union sollten

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[1] Unter dem Druck der großen Arbeiterdemonstrationen für ein demokratisches Wahlrecht in ganz Österreich und der Auswirkungen der russischen Revolution kündigte die Regierung in Wien im November 1905 die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts an.

[2] Laut Hamburger Echo Nr. 203 vom 30. August 1905 hatte Karl Frohme über das Thema „Generalstreik und politischer Massenstreik“ am 29. August 1905 in einer Mitgliederversammlung der Zahlstelle der Zimmerer referiert. Er lehnte den politischen Massenstreik als ein Mittel des Anarchismus strikt ab.