Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 576

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/576

Wasserwerke sind nach kurzer Unterbrechung, welche eine Panik hervorrief, wieder instand gesetzt. Es ist also wieder Wasser vorhanden. Jetzt aber erklärten die Wasserarbeiter, sie würden sofort streiken, falls die revolutionären Führer sie dazu auffordern. Überhaupt drohen die städtischen Arbeiter und niederen Angestellten, darunter das Pflegepersonal der kommunalen Krankenhäuser, ferner die Techniker der elektrischen Zentrale usw., mit Streik. Der 28. Oktober wird die Entscheidung bringen. Sämtliche Ingenieure sind bereits heute in den Ausstand getreten, ebenso streiken alle Apotheker. Die Pharmazeutische Gesellschaft wurde von der Polizei geschlossen, ihr Lokal versiegelt; mehrere Pharmazeuten wurden verhaftet. Die Angestellten der Semstwos[1] sind ebenfalls bereit, sich der Bewegung anzuschließen. In vielen Fabriken ist seit heute die Arbeit niedergelegt, auch in der Kornbranntwein-Niederlassung. Überall herrscht furchtbare Gärung. Täglich finden kolossale Meetings und Versammlungen statt, besonders in der Universität. Die politischen Führer halten den Zeitpunkt für einen Generalstreik gekommen, die offene Revolution dürfte binnen kurzem zur Wahrheit werden.

Über den Charakter der Massenbewegung berichtet uns ein gestern Nacht aufgegebenes Telegramm eines Petersburger Korrespondenten: Infolge des Beschlusses der gestrigen Massenversammlung in der Universität sind heute alle Arbeiter auf den Petersburger Eisenbahnlinien in den Ausstand eingetreten. Heute Abend versammelten sich die Arbeiter der Putilow-Werke, die wahrscheinlich am Montag in den Ausstand eintreten. Bis jetzt verläuft hier alles ruhig, die Führer suchen Straßenkrawalle zu vermeiden. Alle Bahnhöfe werden durch Truppen bewacht und Gendarmeriepatrouillen durchziehen die Straßen. Es wird eine allgemeine Verteuerung der Lebensmittel erwartet, die, falls der Streik lange dauert, am Ende zu Straßenkonflikten führen kann. Die Stimmung der Arbeiter ist sehr gehoben, wozu die in letzter Zeit in den Hochschulen abgehaltenen Massenversammlungen sehr viel beigetragen haben. In diesen Versammlungen wurden Reden von äußerst revolutionärem Inhalt gehalten.

Zum ersten Mal nimmt die neue Bewegung die Formen einer wirklich tiefgehenden Massenbewegung an. Die Regierung, welche heute die vier Freiheiten und die gesetzgebende Kraft für die Duma bekanntgeben wollte, hat diesen Akt verschoben. Sie ist durch den jetzigen Eisenbahnerstreik in große Angst versetzt und diskutiert Mittel und Wege, um sich aus der gegenwärtigen Lage zu befreien. Sie scheint auch jetzt noch zu Gewaltmitteln zu neigen. Witte trete immer noch für gemäßigten Liberalismus ein, aber seine gestern gehaltene Rede hat einen äußerst schlechten Eindruck gemacht.

Nächste Seite »



[1] Semstwo: 1864 im Zuge liberaler Reformen in Rußland eingerichtetes und bis 1917 bestehendes Organ lokaler Selbstverwaltung auf Gouvernements- und Kreisebene. In ihnen waren der Adel, die Städter und die Bauern vertreten.