Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 569

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Petersburg, 25. Oktober. Die Sitzung des Kongresses von Delegierten der Eisenbahnangestellten wurde mit der Verlesung eines Memorandums eröffnet, welches die professionellen Bedürfnisse der Angestellten und ihre Forderungen aufzählt. Der Berichterstatter betonte die Notwendigkeit, eine Abschrift des Memorandums an den Grafen Witte zu schicken, da dasselbe so ernste Fragen enthalte wie die Schaffung einer Konstituierenden Versammlung. Der Kongreß beschloß, Abordnungen von je fünf Personen mit einer Abschrift des Memorandums an Witte und den Verkehrsminister Fürsten Chilkow zu entsenden und ihre Rückkehr abzuwarten. Die zu Chilkow entsandte Abordnung traf denselben nicht an, da er nach Peterhof gefahren war, um dort über die Ereignisse in Moskau Bericht zu erstatten. Man ließ daher das Memorandum bei dem Minister und ließ ihn bitten, nach seiner Rückkehr von Peterhof der Abordnung eine persönliche Zusammenkunft zu gewähren; man werde seine Antwort im Eisenbahnerklub erwarten. Große Spannung herrschte, als die zu Witte gesandte Deputation zurückkehrte. Ein Mitglied derselben berichtete, Witte habe sie sofort in seinem Kabinett empfangen. Er habe ihnen eröffnet, daß ihre Unterredung einen durchaus privaten Charakter haben müsse, da der Präsident des Ministerkomitees nicht das Recht habe, das Memorandum entgegenzunehmen. Gegen eine Veröffentlichung der Unterredung habe er aber nichts einzuwenden. Witte bemerkte, die Denkschrift enthalte zahlreiche Forderungen, die auch in jedem anderen Lande unerfüllbar seien, aber viele verdienten die Aufmerksamkeit. Er sprach sich an erster Stelle gegen eine Konstituierende Versammlung aus, welche gegenwärtig unmöglich sei. Dies wiederholte er mehrere Male und setzte auseinander, das allgemeine Stimmrecht gebe den reichen Klassen ein Übergewicht durch die Möglichkeit des Stimmenkaufes, es sei daher durchaus nicht ohne Fehler. Der Gedanke des allgemeinen Stimmrechts sei somit offenbar nicht von einem wesentlichen Bedürfnis der Eisenbahner eingegeben. Witte erklärte weiter, er erkenne die Versammlungs- und Pressefreiheit an, welche sehr bald zugelassen werden würden. Er sei überrascht, zu erfahren, daß der Kriegszustand auf den Eisenbahnen noch nicht außer Kraft gesetzt sei. Dies sei ein Mißverständnis, das in den nächsten Tagen abgestellt werde. Weiter erklärte Witte sich als Gegner allen Druckes und Blutvergießens und als Verfechter der weitesten Freiheit, aber er könne nicht vorhersagen, wie man dem Ausstand ein Ende setzen werde. Er werde mit Chilkow konferieren und sein Möglichstes tun; seiner Meinung nach müsse der Ausstand eingestellt und dann friedfertige Bedingungen ausgearbeitet werden. Ein Delegierter berichtete, Witte habe den Kongreß anerkannt und den Wunsch ausgedrückt, derselbe möge eine ständige Einrichtung werden. Auf die Bemerkung eines Delegierten, daß die Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht nicht auf einer momentanen Eingebung, sondern auf einem notwendigen Bedürfnis beruhe und daß der Buchhandel mit Schriften über das allgemeine Wahlrecht, welches Gegenstand der Forderungen von fast ganz Rußland geworden sei, geradezu überschwemmt werde, erwiderte Witte, es gebe in der ganzen Welt keinen gelehrten Fachmann, der für das allgemeine Wahlrecht eintrete. Ein Mitglied der Abordnung bemerkte hierzu, man dürfe sich über diese Antwort Wittes nicht wundern, der als ein richtiger Beamter gespro-

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