Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 570

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chen habe, welcher stets laviert, ohne etwas Bestimmtes zu sagen. Um aber Charakter zu zeigen, müsse man, damit man seine Forderungen durchsetzen könne, ein weiteres Vorgehen bis zum 25. Oktober verschieben, wo die Zusammenkunft mit dem Fürsten Chilkow stattfinden dürfte. (Beifall.) Die Bürokratie werde den Eisenbahnangestellten nichts geben, man müsse es sich daher nehmen. Man solle also nehmen, was man brauche. (Beifall.) Ein anderes Mitglied der Abordnung erklärte: Wir haben unsere Pflicht erfüllt, indem wir die Forderungen aller Angestellten zusammengestellt und vorgebracht haben. Im Augenblick, wo für die leitenden Kreise sich die Notwendigkeit ergibt, dieselben zu erfüllen, fällt die Verantwortung auf diejenigen zurück, welche das nicht tun. Ich beantrage, nach der Zusammenkunft mit Chilkow eine endgültige Entscheidung zu treffen. Obgleich die Ansicht der Versammlung in bezug auf die Bereitwilligkeit Wittes und das Vertrauen, welches sie seinen Worten schenkte, keinem Zweifel unterlag, beschloß die Versammlung dennoch, die Ergebnisse der Besprechung mit Chilkow abzuwarten, und begab sich sodann in corpore zu dem Meeting in der Universität.

Auch aus diesem offiziös frisierten Bericht ergibt sich deutlich genug, daß sich der Kongreß durch Wittes diplomatischen Ränke und staatsrechtlichen Belehrungen nicht hat düpieren lassen. Er hat aus den Phrasen des Zarengünstlings den Kern richtig herausgefunden: die nackte Erklärung, daß die „weitgehendsten Volksfreiheiten“ in der lächerlichen Spottgeburt der Duma bestehen sollen und daß das allgemeine, gleiche Wahlrecht unter keinen Umständen bewilligt werden soll![1] Keine Konstituierende Versammlung soll die Verfassung des Volkes schaffen, sondern die lächerliche Vertretung der hohen Bürokratie und des korrupten Geldsacks soll unter dem fadenscheinigen Deckmantel einer „beratenden“ Körperschaft das zaristische Schreckensregiment mit all seinen volksknutenden und volksaussaugenden Praktiken aufrechterhalten helfen! Das Volk freilich hat den perfiden Plan durchschaut und läßt sich durch girrende Redensarten nicht ködern. Es hat den Kampf mit wuchtiger Energie aufgenommen.

Die Kriegserklärung der Eisenbahner ist unmittelbar erfolgt: Petersburg, 25. Oktober. An der in der Universität abgehaltenen Versammlung der Eisenbahnangestellten nahmen 15000 Personen teil, darunter auch Arbeiter, Studenten und viele Frauen. Die Versammlung dauerte bis nach Mitternacht; es wurden terroristische und aufrührerische Reden gehalten, die stürmischen Beifall fanden.

Die Ausdehnung des Eisenbahnerstreiks erhellt aus folgenden offiziösen, sicher eher schönfärberischen als übertreibenden Nachrichten: Moskau, 24. Oktober. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Der Ausstand der Bahnarbeiter greift immer

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[1] Am 19. August 1905 hatte die zaristische Regierung ein vom Innenminister Alexander Bulygin verfaßtes Gesetz für die Wahlen zu einer Reichsduma erlassen. Danach war die Duma nur als beratendes Organ vorgesehen, und die Wahlen sollten nach dem Ständeprinzip und nach einem festgelegten Vermögenszensus vollzogen werden. Die Industriearbeiter waren völlig und die Bauern fast gänzlich von den Wahlen ausgeschlossen.