Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 562

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des Zolltarifs zu melden. Er erhielt vom Kaiser die goldene Verdienstkette. Das Volk hat die eiserne Hungerkette erhalten.[1] So viel Sünden die Nationalliberalen auch auf dem Gewissen haben mögen, sie haben wenigstens den Mut, offen für das einzutreten, was sie wollen, während das Zentrum elende Heuchelei treibt. Das Zentrum brüstet sich damit, daß es für eine Witwen- und Waisenversicherung eingetreten ist. Mit der einen Hand nimmt es tausenden Leuten das Brot, mit der anderen Hand wirft es den Witwen und Waisen ein paar Brosamen hin und sagt: „Seht, wir sind doch eine arbeiterfreundliche Partei.“ Nach der neuesten Berechnung kommt, wenn das Gesetz im Jahre 1910 in Kraft tritt, höchstens 50 Mark als jährliche Versorgungsrente heraus. Das Zentrum spielt sich deshalb als arbeiterfreundliche Partei auf, weil es angeblich so viel in Sozialpolitik macht, aber wie steht es mit der Arbeiterfreundlichkeit des Zentrums in Wirklichkeit? Alle sozialpolitischen Anträge der Sozialdemokraten fielen durch dank der Zentrumspartei.

In diesem Essener Wahlkreis wäre eigentlich jedes Wort über die Zentrumsheuchelei überflüssig; ich erinnere nur an die Berggesetznovelle[2]. Das Zentrum hat durch Mogeler hinter den Kulissen die Novelle aus dem Reichstage in das Geldsacksparlament gebracht, und was dort aus dieser Novelle herausgekommen ist, ist nichts als Hohn und Spott.

Das Zentrum ist sich auf allen Gebieten treu geblieben. Im Jahre 1892 trat es für die Zedlitzsche Schulvorlage ein.[3] Der verstorbene Abgeordnete Reichensperger hielt die Volksschulbildung nicht nur für einen überflüssigen Luxus, er meinte sogar, daß die Bildung des Volkes die allergrößte Gefahr für das Deutsche Reich in sich berge. In diesen wenigen Worten ist das Glaubensbekenntnis des Zentrums eingeschlossen. Der dümmste Arbeiter ist ihm der liebste. Das Zentrum hat dadurch zugestanden, daß es nur von der Dummheit des deutschen Volkes lebt. Wenn die Bildung allgemein Platz greift, dann ist es um das Zentrum geschehen. Die Zentrumspartei ist eine Partei der Heuchelei und der Volksverdummung. Die Zentrumsfraktion setzt sich zusammen aus Geistlichen, Großindustriellen, Großgrundbesitzern, aus Prinzen und Grafen, aus dem Adel sowie aus einigen Handwerkern und einem Arbeiter. Sie will alle Schichten der Bevölkerung unter ihrem schwarzen Mantel vereinigen. Sie vertritt die Interessen des Agrariers und unterscheidet sich darin nicht von den ostelbischen

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[1] Siehe S. 476, Fußnote 4.

[2] Am 26. Mai 1905 verabschiedete das preußische Abgeordnetenhaus die am 8. März eingebrachte Novelle zum Berggesetz. Für die Bergarbeiter wurde teilweise die Arbeitszeit herabgesetzt und das Strafsystem reformiert. Es wurden Arbeiterausschüsse und sanitäre Vorschriften eingeführt.

[3] Ende Januar 1892 hatte die preußische Regierung dem Abgeordnetenhaus den Entwurf eines neuen Volksschulgesetzes vorgelegt. Nach diesem Gesetzentwurf sollten die allgemeinbildenden Volksschulen in konfessionelle Schulen umgewandelt werden und die Oberaufsicht über die ganze Volksschulbildung der Geistlichkeit übertragen werden. Der im Interesse der Zentrumspartei eingebrachte Gesetzentwurf rief bei den Liberalen scharfen Protest hervor, was im März 1892 zum Ende des preußischen Kabinetts führte. Die neue preußische Regierung zog den Gesetzentwurf zurück.