Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 561

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aber auch eine traurige Seite. Die Reichsschulden betrugen 1878 72 Millionen Mark, jetzt haben wir bereits 2½ Milliarden Mark Reichsschulden. Wenn Hinz oder Kunz Schulden macht, so bedeutet das, daß er selbst seine Schulden bezahlen muß. Mit den Reichsschulden ist das jedoch anders. Das Zentrum und die bürgerlichen Parteien bewilligen alle Ausgaben und der deutsche Michel muß die Zeche bezahlen. Das Ende vom Liede ist dann das Reichsdefizit. Dank der wahnsinnigen Ausgaben haben wir bereits ein Reichsdefizit von 75 Millionen Mark. Für die neue Militärvorlage[1] von 100 Millionen wird das Zentrum mit samt seinem hiesigen Kandidaten, wenn derselbe gewählt wird, ich hoffe, daß er nicht gewählt wird, stimmen. Von einer Erbschafts-, Einkommen- und Vermögenssteuer wollen die Herren nichts wissen, sie sind nur dazu da, um zu bewilligen, bezahlen muß es das deutsche Volk.

Ich komme jetzt zu dem Kapitel der indirekten Steuern und der Brotzölle. Die indirekten Steuern sind dazu da, die ärmsten Schichten des Volkes zu schröpfen, ohne daß sie es merken. Allein die Salzsteuer beträgt 60 Prozent des Salzpreises. Im Jahre 1878 betrugen die Einnahmen für indirekte Steuern 237 Millionen, jetzt betragen sie jährlich 903 Millionen Mark. Wem verdanken wir diese indirekten Steuern? Wer steht an der Spitze, diese Forderungen immer zu bewilligen? Das Zentrum. Ich erinnere nur an die Tage, wo die sozialdemokratische Fraktion auf Tod und Leben den Wuchertarif bekämpfte, ich erinnere an jene denkwürdige Adventnacht, was sich dort im Reichstage abgespielt hat.[2] Die Sozialdemokratie habe keine Mühe, keine Worte gespart, um den Tarif zu Fall zu bringen. Durch diesen Tarif werden die Zölle, insbesondere auch auf Vieh, bedeutend erhöht. Nach dem alten Satz kostet ein Schaf eine Mark Zoll, nach dem Hungertarif aber neun Mark, ein Schwein fünf Mark, dann 27 Mark, ein Kalb drei Mark, dann neun Mark, ein Ochse 25 Mark, nach dem neuen Tarif 185 Mark. Nicht nur das Fleisch, sondern jeder Bissen, den man zu Munde führt, ist so hoch belastet. Man redet sich heraus, daß man die Zölle namentlich dem kleinen Bauern zu Liebe erhöht hat. Das ist Unsinn. Gerade diesen kleinen Bauern hat man alle Mittel zur Führung seines kleinen landwirtschaftlichen Betriebes verteuert: wie Gerste usw. Gegen diese ungeheuere Verteuerung der Lebensmittel kämpften die Sozialdemokraten wie ein Löwe. An der Spitze der Bewilligung stand wie in einer Phalanx das Zentrum. An der ganzen Spitze stand als Soldknecht ihr Präsident Graf Ballestrem. Die Geschäftsordnung wurde mit brutaler Macht gebrochen. Als gegen fünf Uhr morgens der Sieg der Brutalität und der Niedertracht verfochten war, eilte Graf Bülow in das Kaiserliche Palais, um dem Kaiser die Annahme

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[1] Ende März 1905 hatten die Sozialdemokraten im Reichstag gegen eine weitere Erhöhung der Friedenspräsenzstärke des Heeres um rund 10000 Mann sowie gegen die Aufstellung neuer Truppenformationen gestimmt. Die Vorlage wurde mit Stimmenmehrheit angenommen und trat ab 1. April in Kraft. Die einmaligen Kosten für diese Heeresvergrößerung beliefen sich auf über 100 Mill. M, die fortdauernden jährlichen Ausgaben auf 16 Mill. M.

[2] Bereits im Februar/März 1901 hatte es gegen die Erhöhung der Getreide- und Fleischzölle eine machtvolle sozialdemokratische Protestbewegung gegeben, nachdem erste Einzelheiten des Entwurfs eines Zolltarifgesetzes und eines neuen Zolltarifs bekannt geworden waren. Danach sollten enorme Erhöhungen der Agrar- und einiger Industriezölle erfolgen, die für die Mehrheit der Bevölkerung auf eine wesentliche Verschlechterung der Lebenslage hinausliefen. – Am 5. Dezember 1901 hatte die sozialdemokratische Fraktion dem Deutschen Reichstag eine Petition gegen die geplante Zollerhöhung mit rd. 3,5 Mill. Unterschriften übergeben. Paul Singer hatte am 11. Dezember 1901 die ablehnende Haltung der deutschen Sozialdemokratie gegenüber der Vorlage des Bundesrates zur Erhöhung der Getreidezölle begründet und die mächtigsten Großagrarier als Urheber der Vorlage entlarvt. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion kämpfte dann vom 16. Oktober bis 14. Dezember 1902 noch einmal mit allen parlamentarischen Mitteln gegen die Gesetzesvorlage. In den 39 Sitzungen der zweiten und dritten Lesung ergriffen 30 sozialdemokratische Abgeordnete 250 mal das Wort. Zollgesetz und Zolltarif wurden am 14. Dezember 1902 mit 202 gegen 100 Stimmen gebilligt und traten ab 1. März 1906 in Kraft.