Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 557

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Umstande, daß einer seiner intimen Kampfgenossen aus der Verbannung zurückkam: Die Ehrenerklärung, die die PPS erließ, ist unterzeichnet von Frau Dr. Golde, Ignaz Daszyński und L. Falski. Der letzte war ein Zeuge der Tätigkeit Kasprzaks von 1888 bis 1892; dann wurde er verhaftet und verbannt; jetzt hat er die PPS, deren Mitglied er ist, gezwungen, das Verbrechen zu sühnen, das an seinem Kampfgenossen begangen ward. Frau Golde und Daszyński hatten die Kampagne jahrelang mitgemacht; jetzt gestehen sie ein: Es lag niemals ein Beweis vor, es war alles Lug und Trug.

Das Bluturteil ist gesprochen, wie in so vielen Fällen unter frecher Beugung des Rechts. Kasprzak hat sein Leben verteidigt, als er die Häscher niederschoß; ob er die Tat im Besitze seiner Geistesklarheit begangen? Die Sachverständigen bezweifeln es. Die Sachverständigen erklärten aber in der ersten Gerichtsverhandlung, daß unzweifelhaft im Kerker geistige Erkrankung eingetreten sei; das „Gericht“ ist gezwungen, seine Hände für einige Zeit von seinem Opfer zu lassen, Kasprzak wurde den Ärzten zur Beobachtung überwiesen, aber man sorgte dafür, daß diese Ärzte ein Gutachten lieferten, wie der Zar es will. Das war der erste Rechtsbruch. Die Tat geschah zu einer Zeit, als in Warschau normale Zustände herrschten, das Gericht urteilte nach Kriegsrecht, obgleich der Ausnahmezustand viel später verhängt worden ist. Das war der zweite Rechtsbruch. Die Verteidiger erhoben berechtigte prozessuale Einwände, die zu einer Kassation des Urteils führen mußten; man beachtete es nicht; der Satrap des Zaren in Warschau ließ aus eigener Machtvollkommenheit das Urteil vollstrecken. Das war der dritte Rechtsbruch. Der Zar wollte Blut, seine Kreaturen haben sich gefügt, das Opfer fiel.

Ebenso ungeheuerlich ist das Urteil gegen den zweiten Angeklagten: Dem Genossen Gurtzmann konnte nicht nachgewiesen werden, daß er auch nur die geringste Gewalttat begangen, daß er bei der Verteidigung gegen die Häscher sich beteiligt. Trotzdem – 15 Jahre Zwangsarbeit.

Der Bericht über die Gerichtsverhandlung enthält eine unsagbar erschütternde Stelle: Kasprzak hörte der Verhandlung regungslos zu; die Verteidiger kämpften leidenschaftlich um sein Leben, er aber hörte nicht einmal hin, er war absolut stumm und gleichgültig. Nur ein einziges Mal lebte er auf: Der Staatsanwalt brauchte das niederträchtige Mätzchen, das sozialdemokratische Programm so auszulegen, als wenn es jeden Akt der Gewalt, selbst im Falle der Notwehr, der Selbstverteidigung verpöne; das brauchte er, um den Akt des Kampfes gegen die Häscher als ein besonderes Verbrechen darzustellen; dabei erdreistete sich dieser Kujon zu erklären, Kasprzak sei nicht würdig, Sozialdemokrat zu sein. Als der unglückliche Mann das vernahm, da flammte noch einmal der Geist in ihm empor: Er erhob sich, richtete sich stolz empor und drohte ohne ein Wort zu sprechen dem Beleidiger mit geballter Faust. – Sein Leben zu verteidigen, dazu fehlte ihm die Kraft, aber als der Knecht des Zaren seine Ehre angriff, seine Proletarierehre, die ihm über das Leben ging, da erhob sich der Held.

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