Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 551

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Noch auf dem Boden liegend, mit tödlicher Wunde in der Brust, schoß er alle Kugeln aus seinem Revolver auf die Kosaken ab; im Sterben presste er die Fahnenstange so fest, daß man ihm dieselbe nicht aus der Faust reißen konnte, und die Genossen bedeckten den gefallenen Kameraden mit der Fahne. Die Menge mühte sich leidenschaftlich, die Fahnen zu retten, und alle sind auch vor den Kosaken geborgen worden. Die Leiter der Demonstration kämpften mit der Soldateska mit verzweifelter Energie. Tatsächlich haben auch die Schergen Verluste davongetragen: Zwölf Kosaken sind tot oder schwer verwundet vom Pferd gefallen. Auf Seiten des Volkes gibt der Regierungsbericht 18 Tote an, in Wirklichkeit ist die Zahl doppelt so groß. Die Zahl der Verwundeten ist bis jetzt nicht festgestellt worden, weil viele nicht in Spitälern, sondern in Privathäusern liegen.

Diese Schlächterei ist der Ausgangspunkt der heutigen Revolution gewesen. Eine ungeheure Volksmenge sammelte sich um die Stätte der blutigen Greueltat und wich die ganze Nacht nicht von den Straßen, trotzdem noch um 12 Uhr auf diese ruhig dastehende, wehrlose Menge geschossen wurde. Wie viele diesen neuen Mordtaten zum Opfer gefallen sind, ist im Augenblick noch unklar, weil seitdem so viele Zusammenstöße stattgefunden haben, daß man den Überblick schwer bewahren kann.

Der Massenmord an den wehrlosen Arbeitern hat im ersten Augenblick gestern sehr deprimierend gewirkt. In gedrückter Stimmung stand das Volk um die Blutstätte schweigend. Doch das dauerte nur kurze Zeit. Heute vom frühen Morgen an war die Stimmung begeistert. Das ganze Volk ist auf den Straßen, kampflustig, fest. Alles ist tätig und bereitet sich zum Kampf.

Die Sozialdemokratie hat bereits heute den Beginn des Generalstreiks ins Werk gesetzt. Die Fabriken sind heute sowieso infolge des katholischen Feiertages[1] geschlossen. An die Ladeninhaber sind Deputationen von der Partei abgeordnet, um den Ladenschluß zu fordern für heute und für morgen. Heute Nachmittag haben wir auch schon den Verkehr der Straßenbahnen einstellen lassen. Zusammenstöße mit Polizei und Kosaken in kleineren Gruppen geschehen unaufhörlich. Die Menge entwaffnet die Polizisten und Soldaten, wo sie nur kann. In der Oststraße und in der Neustadtstraße sind einige Kosaken und Polizeiagenten getötet worden. In der Altstadt ist Material zum Barrikadenbau bereitgelegt worden: Bretter, Steine, Leitern und dergleichen. In der Süd- und Oststraße ist eine Barrikade aus Fässern errichtet worden. Um 9 Uhr abends haben die Kosaken auf die Barrikade den Sturm eröffnet. Zwei Salven haben wir gehört, das Resultat ist im Augenblick, wo ich schreibe, noch nicht bekannt.

In der Oststraße hat sich nachmittags das Volk auch in zwei Privathäusern verbarrikadiert und fing an, aus den Fenstern und von den Dächern aus auf das Militär und die Kosaken zu schießen und mit Steinen zu werfen. Mehrere von den Schergen sind auch gefallen. Eine halbe Stunde lang wurden die Häuser vom Militär beschossen,

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[1] Am Donnerstag, 22. Juni 1905, war Fronleichnamsfest.