Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 524

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Es bleibt uns also zur Entscheidung über die Ansicht der russischen Revolution nur noch die Frage, wie sich das russische Militär verhalten wird. Bisher hat sich dieses Militär ziemlich schmachvoll benommen; die russischen Horden haben sich nicht geweigert, auf das wehrlose Volk zu schießen. Ich glaube aber trotzdem, daß ein Umschwung eintritt, und ich erblicke eine Gewähr dafür in der Niederlage des Zarismus im Fernen Osten.[1] In keinem Krieg ist bisher die eine Seite so konsequent geschlagen worden wie in diesem Kriege. Wie kommt es denn, daß Rußland es fertig bringt, eine Schlappe nach der andern zu erleiden? An dem russischen Soldaten liegt es nicht. Die Frage ist auch nicht aufgeklärt durch den bloßen Hinweis auf die im Heere herrschende Korruption. Die Korruption ist nichts als ein Zwillingsbruder des Militarismus selbst. Diese Korruption war auch in Frankreich, sie besteht auch in Deutschland. Wichtiger ist jener psychologische innere Verfall des Heeres, der sich immer bei einer verfallenden Gesellschafts- oder Regierungsform einstellt. Die Kluft zwischen Volk und Regierung bricht die innere Kraft auch des Heeres. Und die Schlappen der Zarenarmee im Felde sind das Symptom einer geistigen Verfassung im Militär, die bald auch zu seinem Versagen im Innern führt. Schon hat ein Regiment sich geweigert, auf das Volk zu schießen. Und bald wird die Zeit kommen, wo das russische Militär in seinem großen Teil dieselbe Antwort geben und die russische Revolution siegen wird. Und mit der weiteren Zersetzung der bürgerlichen Gesellschaft auch bei uns im Westen wird über kurz oder lang die Zeit kommen, wo das Militär auch hier dieselbe Antwort geben wird, wenn man es gegen das Volk senden wird, in dem Augenblick, wo wir eine Revolution auf deutschem Boden erleben. Diese Antwort, die Soldatenantwort, ist in diesem Gedicht zusammengefaßt, das in den letzten Wochen in Rußland vom Volke geschaffen und in deutscher Übersetzung neulich veröffentlicht worden ist:

Kein Schuß von unsrem Regiment,

Herr Oberst, nein, das tun wir nicht!

Sucht euch ein andres, wenn ihr könnt,

Wir schießen nicht!

Stolz tragen wir des Kaisers Rock

Wir schänden ihn auch heute nicht.

Und droht uns auch der Folterblock,

Wir schießen nicht!

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[1] Zum Russisch-Japanischen Krieg siehe S. 501, Fußnote 2.