Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 523

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Kreuz voran die Arbeiter zum Zaren führen wollte, hat anderntags erklärt: „Wir haben keinen Zaren mehr.“ Eine solche rasche Erziehung erleben wir niemals in ruhigen Zeiten. Freilich diese Erziehung war bezahlt mit 2000 Leichen und 6000 Verwundeten, mit gemordeten Frauen, Kindern und Greisen. Die bürgerlichen Klassen haben eine heillose Angst vor der sozialen „Heugabel-Revolution“. Es hat sich aber auch hier herausgestellt, daß nicht das Volk, sondern die Reaktion zum Mord gegriffen hat, daß die Opfer nur auf seiten der russischen Proletarier gefallen sind. Die bürgerliche Klasse behauptet, daß die Sozialdemokratie den Klassenkampf säe und predige. Es hat sich in 24 Stunden gezeigt, daß der Klassenkampf nicht eine Erfindung ist, sondern eine Tatsache, die im Empfinden der bürgerlichen Gesellschaft steckt. Wir sehen jetzt durch ganz Rußland das Streikfieber gehen. Die polnischen Arbeiter haben nach dem 22. Januar erklärt: Das ist Fleisch von unserem Fleisch, was dort ermordet worden ist, und haben den Generalstreik proklamiert.[1] Einen so absoluten Generalstreik haben wir noch nicht erlebt, und zwar ohne daß je zuvor eine Agitation für den Generalstreik stattgefunden hätte. Es war der intensivste Widerstand, der dem Zarismus geleistet werden konnte. Jetzt haben wir alle möglichen partiellen Streiks, die sich auf alle Branchen verpflanzten; sogar Angestellte, Beamte, die Dienerschaft, die Hausknechte, die Schutzleute streikten. Die ganze bürgerliche Gesellschaft ist plötzlich in zwei Lager gespalten; zahlreiche Beamtenkategorien haben erst jetzt entdeckt, daß auch sie Proletarier sind. So hat diese Revolution den Boden eines proletarischen Klassenkampfes, was wir weder bei der Märzrevolution noch sonst bei einer Revolution erlebt haben. Dies ist die beste Garantie dafür, daß die Revolution fortleben und nicht ruhen wird, bis der letzte Rest des Absolutismus vertilgt ist. Wir wissen, daß 130 Millionen Einwohner zur Bauernschaft gehören; aber bereits jetzt haben wir Nachrichten von Erhebungen in den Bauernschaften. Diese Revolten sind dort eine ständige Erscheinung. Bestand doch die russische Bauernbefreiung darin, daß man den Bauern die schlechtesten Bodensorten gab, und zwar gegen Kauf. Die russische Regierung streckte das Geld vor, und der russische Bauer befand sich in den Händen der russischen Regierung. Sie haben bis heute noch nicht die Schuld getilgt. Bei vielen Bauern betrug diese Summe das Zwei- bis Dreifache ihres Einkommens. Als Folge stellte sich das Abschwärmen der russischen Bauern in die Industrie ein; zahlreiche Bauern wurden Industriearbeiter. Die russischen Bauern haben durch Hungersnot gelernt, was die Herrschaft des Zaren bedeutet. Heute ist diese Bauernschaft nichts anderes als eine Reserve der sozialen Revolution.

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[1] Rosa Luxemburg nennt in „In revolutionärer Stunde: Was weiter?“ als Beginn des allgemeinen Streiks den 28. Januar 1905, zu dessen Höhepunkt der Generalstreik der polnischen Arbeiter vom 1. bis 4. Mai 1905 wurde, siehe GW, Bd. 1, 2. Halbbd., S. 554.