schuß. Nachdem es den russischen Terroristen gelungen war, sogar den Zaren aus dem Wege zu räumen, erfolgte bald der Katzenjammer, und es stellte sich heraus, daß die Befreiung der Arbeiterklasse auch in Rußland nur das Werk der Arbeiterklasse sein könne. Aber auch diese Aufgabe erschien wieder als eine schier unlösbare Aufgabe. Das gänzliche Fehlen aller politischen Rechte, der Zustand, daß auf jedem Wort, ja auf dem geringsten Versuch schwere, lange Kerkerstrafe, wenn nicht die Todesstrafe stand, schien jede Verbreitung der revolutionären Ideen auf diesem ungeheuren Gebiet unmöglich zu machen. Der russische Absolutismus hat es nicht verschmäht, auch aus der schmutzigsten Quelle, der nationalen Zwietracht zu schöpfen; er hat Judenhetzen arrangiert, hat die Mohammedaner gegen die christlichen Armenier aufgehetzt, um den Kampf gegen sich selbst zu einem Kampfe innerhalb der Arbeiterklasse zu verwandeln. Nach 1872 gab es einen ganzen Sturm von Judenhetzen, und damals waren es sogar russische Arbeiter, die sich einreden ließen, der Jude allein sei die Ursache ihrer Unterdrückung. Auch die Verhetzung der Polen war ein Mittel, um den Absolutismus zu retten, ebenso der Armenier, der Finnländer, womit aber nur erzielt wurde, daß die Arbeiter aller dieser Nationalitäten einsehen und sich sagen mußten, wie Berta im Wilhelm Tell:
Es ist ein Feind, vor dem wir alle zittern
Und eine Freiheit macht uns alle frei.[1]
Hier hat nun die Sozialdemokratie Rußlands eingegriffen, hat überall die Unterdrückten[2] vereinigt, sie hat ihr Werk getan, so daß wir bereits in den neunziger Jahren ganz andere Formen des Klassenkampfes in Rußland erlebten. So 1896 den Riesenstreik in Petersburg, wo eine reine ökonomische Frage die russischen Arbeiter veranlaßte, sich auf dem Wege des Streiks alle möglichen Vorteile zu erzwingen.[3] Und in den neunziger Jahren sehen wir auch eine intensive sozialdemokratische Bewegung. Die Revolution, die wir jetzt sehen, hat eigenartige Formen angenommen, wie überhaupt jede Revolution die Formen annimmt, die ihrem jeweiligen Bedürfnis entsprechen, und auch der Zufall spielt eine Rolle. Derselbe Gapon[4], der am 22. Januar mit dem
[1] Friedrich Schiller: Wilhelm Tell. Schauspiel. Dritter Aufzug, 2. Szene. In: ders.: Gesammelte Werke. Vierter Band, Berlin 1959, S. 497.
[2] In der Quelle irrtümlich: Unterdrücker.
[3] Unter Führung des Kampfbundes zur Befreiung der Arbeiterklasse hatten im Sommer 1896 etwa 30000 Textilarbeiter in St. Petersburg gestreikt. Sie forderten Bezahlung des Arbeitsausfalls an den Krönungsfeiertagen und Verkürzung der Arbeitszeit. Um die Ausweitung des Streiks zu einem Generalstreik zu verhindern, wurden die Forderungen der Arbeiter teilweise erfüllt und der Streik nach drei Wochen beendet.
[4] Der russisch-orthodoxe Prieser Georgi Gapon entstammte einer jüdisch-ukrainischen Bauernfamilie, konvertierte früh zum Christentum und wirkte als Gefängnispfarrer. 1903 hatte er die Versammlung der Russischen Fabrikarbeiter in St. Petersburg ins Leben gerufen, die von der Geheimpolizei Ochrana unterwandert wurde. Dem Demonstrationszug der Petersburger Arbeiter am (9.) 22. Januar 1905 war er mit einer Bittschrift an Zar Nikolaus II. vorangeschritten, der die friedlich Demonstrierenden zusammenschießen ließ. Siehe auch S. 519, Fußnote 4, S. 767, 775, 780, 784 und 800.