haben wir in Rußland. Es gibt zwar auch in Rußland einen sogenannten Liberalismus. Aber diese Spezies war der sogenannte Kronprinzenliberalismus, der von Gott in seinem Zorn geschaffen worden ist, um den Liberalismus recht verächtlich zu machen. Der russische Liberalismus hat mit einer fortschrittlichen, modernen bürgerlichen Klassenbewegung nichts zu tun, sein Träger ist nicht das industrielle Bürgertum, sondern der Adel. In Rußland ist der Adel in seinen mittleren Schichten viel aufgeklärter und gebildeter als die Bourgeoisie. Nicht als ob er ein Stürmer und Dränger wäre; seine Opposition ist vielmehr im letzten Grunde genommen von reaktionärem als von fortschrittlichem Charakter. Er wird gehegt von freihändlerischen Tendenzen; er ist die Opposition einer Klasse, die sich durch die hohen Schutzzölle beschwert fühlt. Der Adel sieht es nicht gern, wenn er die landwirtschaftlichen Maschinen und Werkzeuge, die Produkte der Industrie, um das Dreifache bezahlen muß. Dazu kommen noch die Interessen der in den Händen des Adels liegenden Selbstverwaltung, die auf Schritt und Tritt durch das plumpe bürokratische Polizeiregime geschurigelt wird, und die liberalen Interessen der städtischen bürgerlichen Intelligenz. Aus allen diesen Elementen wird jene lose Schicht zusammengesetzt, die man in Rußland Liberale nennt. Aber gerade dadurch, daß dieser Liberalismus eine adlige und intellektuelle Opposition und nicht eine kapitalistisch-bürgerliche Bewegung ist, hat er die politische Erziehung und Aufrüttelung der Arbeiterklasse versäumt. Der Liberalismus in Rußland hat nur das einzige Verdienst, daß er von Zeit zu Zeit, wenn ein revolutionärer Anlauf gegen den Absolutismus von sozialistischer Seite unternommen wurde, aufzuatmen wagte, ohne jedoch einmal den Willen zu einer Tat zu finden. Die Erziehung der Arbeiter blieb von Anfang an ein Werk der Sozialdemokratie Rußlands. Das kann nicht genug mit Nachdruck hervorgehoben werden; denn wir sehen jetzt in Rußland das erste Beispiel in der Geschichte der neuen Zeit, daß die politische und geistige Erziehung der Arbeiterklasse einzig auf das Konto der Sozialdemokratie kommt. Die heutige russische Revolution ist – insofern überhaupt bewußtes Eingreifen und politische Vorarbeit bei Revolutionen eine Rolle spielt – das Werk der Sozialdemokratie Rußlands.
Es war dies eine außerordentlich schwierige Aufgabe, und wir sehen auch, daß es ungeheuer schwer war, den sozialistischen Gedanken durch alle Irrwege durchzuführen. Im ersten Anfang erschien der russische Bauer als die berufene Klasse, um die sozialistische Revolution zu machen. Ende der siebziger Jahre entsteht eine Partei, die den Beruf hatte, ins Volk zu gehen, die Bauern aufzuklären, sich dort niederzulassen und die Bauern zum Kampfe gegen den Absolutismus zu rufen. Allein diese Bewegung der siebziger und achtziger Jahre war nur ein großer Mißerfolg. Nachdem die Sozialisten sich überzeugt hatten, daß es keine Macht der Erde gebe, die diese Bauern zu einer Revolution zu erziehen imstande wäre, haben sie den verzweifelten Entschluß gefaßt, durch den Terror den Absolutismus aus dem Wege zu räumen und dann das Volk zur Entscheidung seiner Geschicke zu rufen. Auch dies war ein Fehl-