Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 520

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Revolution als ein so verspäteter Nachzügler gekommen ist? Es ist damit ebenso gegangen wie mit der katholischen Kirche: Es war die Anpassungsfähigkeit an die kapitalistische Entwicklung, die dieser Macht eine solche Dauer gegeben hat. Damit ist das ganze Rätsel gelöst.

Schon vor 50 Jahren hat ein blutiger Krieg die Existenz des Zarismus in Frage gestellt.[1] Allein damals gab es keine Klassen, die seine Erbschaft hätten antreten können, und Rußland selbst war noch gänzlich unentwickelt. Allein bald hat es dieses Rußland, das noch ganz in den Banden des Feudalismus und des russischen Zarismus schmachtete, verstanden, in wenigen Jahren seine Grenzen dem Zufluß der kapitalistischen Ausbeutung zu öffnen. Die sechziger Jahre sind in der russischen Geschichte als eine Periode der liberalen Reformen ausposaunt worden. Damals wurde manches getan, um das mittelalterliche Rußland zu einem modernen Staat umzubilden. Die Leibeigenschaft wurde abgeschafft und damit die Grundlage für eine großartige Ausbeutung geschaffen. Der Zarismus sagte zu der Bourgeoisie: Bereichert Euch! In den siebziger Jahren begann eine noch intensivere Entwicklung, so daß in den achtziger Jahren bereits eine physische Degeneration der Arbeiterschaft bemerkbar wurde. Hinter den Mauern eines raffinierten Schutzzollsystems wuchs die russische Industrie und machte so riesige Profite, daß ihre westeuropäischen Kollegen mit Neid auf diese Entwicklung sahen. Die Eisenindustriellen, die Baumwollindustriellen hatten solche Profite aufgehäuft, daß sie die halsbrecherichsten Kunststücke machen mußten, um die Bilanz zu verschleiern. Aber nicht verschleiern ließ sich das gänzliche Verkommen des russischen Bürgertums, das gänzliche Fehlen eines Liberalismus. Wir teilen ja nicht mehr die Illusionen, mit denen der Liberalismus zur Welt kam. Die heilige Dreieinigkeit von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit hat sich ja längst, wie Karl Marx gesagt hat, entpuppt als die Dreieinigkeit: Infanterie, Kavallerie, Artillerie, und hinter dem schönen, großartigen Brillantfeuerwerk der bürgerlichen Phrasen ist längst die Klassenherrschaft der Bourgeoisie mit all ihren Scheußlichkeiten hervorgetreten. Aber das relative historische Verdienst des bürgerlichen Liberalismus, solange er revolutionär war, bestand darin, die Volksmasse zum politischen Kampf gegen die Reaktion erzogen zu haben. Noch im „Kommunistischen Manifest“ sahen Marx und Engels in der politischen Zusammenfassung der Arbeiter in der ersten Zeit nicht das Werk ihrer eigenen Klassenbewegung, sondern das Werk der Bourgeoisie, die es im eigenen Interesse nötig hat, die Volksmassen zu schulen und sie gegen ihren Feind, den Feudalismus, zu führen. Auch in Deutschland hatte die Bourgeoisie, so feige sie war, doch die deutsche Arbeiterschaft bis zu einem gewissen Grade gegen das feudale Regiment aufzustacheln, zu gruppieren und zu organisieren gewußt. Nichts Ähnliches

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[1] Im Krimkrieg 1853 bis 1856 gegen die Koalition zwischen England, Frankreich, der Türkei und Sardinien um die Vorherrschaft im Nahen Osten erlitt das zaristische Rußland eine empfindliche Niederlage. Es mußte das Gebiet der Donaumündung abtreten und durfte auf dem Schwarzen Meer keine Kriegsflotte unterhalten.