Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 519

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des russischen Zarismus. Es wäre so schön gewesen, wenn der Zar an jenem 22. Januar, als die Arbeiter vor das Schloß wallfahrten,[1] auf seine Ratgeber in den Mosse- und Scherlblättern[2] gehört hätte, wenn er zu den Arbeitern hinausgezogen wäre und einige Worte geredet hätte, die das Volk, den großen Lümmel, nach Hause geschickt hätten. Es war ja immer nur ein „Mißverständnis“, wenn eine Revolution ausbrach, in Wirklichkeit war die Unfähigkeit der Vertreter des Zarismus schuld. Es hat noch kein Regiment gegeben, das so hirnlos, so gewissenlos gewesen wäre wie die Diebesbande, die jetzt an der Spitze der russischen Regierung steht. Lassalle hat einmal in einer seiner Reden an die Arbeiter gesagt: „Die herrschende Reaktion hat viel bessere Diener als Sie, meine Herren!“[3] Das war eine Zeit lang richtig; die herrschenden Klassen können sich ihre Diener gut bezahlen; sie haben die bestbezahlten Diener. Es gilt dieses Wort auch noch für die Vertreter des Ancien Regime vor der französischen Revolution. Das Königtum konnte noch solche Männer wie Turgot und Necker ans Ruder stellen. Wenn wir an diese Leute denken, so müssen wir sagen: Damals war noch in der Regierung eine Schar von Männern vorhanden, die Talent und Wissen repräsentierte. Aber damit steht es in der Geschichte schlimmer und schlimmer; je mehr der Klassengegensatz sich entwickelt, je mehr sich alle Illusionen zerstreuen, um so weniger finden die herrschenden Klassen tüchtige Kräfte. Talent, Charakter und Geist fliehen ins Lager der Revolution. Wir sind in Deutschland von dem Fürsten Bismarck auf den schönen Bernhard mit dem Grübchen im Kinn und dem Büchmann unter dem Arm gekommen.[4] Und wie ist es mit den Parteiführern geworden? Im Zentrum dominierte nach Windthorst die Pygmäe Lieber und jetzt der Zwerg Bachem. Ebenso beim Freisinn: statt Johann Jacoby Eugen Richter. Ebenso bei den Nationalliberalen. Dasselbe sehen wir in andern Ländern: Wir brauchen uns nur an Crispi, die Nasi in Italien und die Jammergestalten zu erinnern, die an der Spitze des offiziellen Frankreichs stehen. Der geistige Verfall der Regierungsmänner in Rußland ist aber beispiellos in der Geschichte. Und wir können uns wirklich fragen: Wie kommt es, daß das russische Regime sich solange erhalten konnte, daß die russische

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[1] Gemeint ist der Beginn der russischen Revolution, als am (9.) 22. Januar 1905 in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift zogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven empfangen, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus.

[2] Gemeint sind das „Berliner Tageblatt“ aus dem von Rudolf Mosse 1867 gegründeten Verlag und der „Berliner Lokal-Anzeiger“, der seit 1883 in dem von August Scherl gegründeten Verlag erschien.

[3] Frei zitiert. Lassalles Äußerung lautet: „Das Fürstentum, meine Herren, hat praktische Diener, nicht Schönredner, aber praktische Diener wie sie Ihnen zu wünschen wären.“ Ferdinand Lassalle: Über Verfassungswesen. Ein Vortrag gehalten in einem Berliner Bürger-Bezirks-Verein. In: Ferdinand Lassalles Reden und Schriften. Neue Gesamt-Ausgabe. Mit einer biographischen Einleitung hrsg. von Ed. Bernstein, London, Erster Band, Berlin 1892, S. 498.

[4] Gemeint ist Bernhard Fürst von Bülow, von 1900 bis 1909 Reichskanzler.