Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 483

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lich! („Bravo.“) Daß die höchsten Unterstützungen in den letzten Jahren nicht mehr als 33½ Reichspfennig betragen haben, ist erwiesen.

Ich möchte den Reichsregierungsräten antragen, doch selbst einmal an ihrem eigenen Leibe zu versuchen, wie sie mit 33½ Pfennig mit ihrer Familie leben können.

Werte Anwesende! Die berühmte Unfallversicherung hat für verkrüppelte Arbeiter in den letzten 16 Jahren 690 Millionen Mark verausgabt, um die verlorenen Gliedmaßen zu entschädigen. Wenn wir jedoch bedenken, daß in dem einzigen Jahre 1901 eine ganze Milliarde für Soldaten verausgabt worden ist, so ist das doch eine ganz andere Summe als 690 Millionen Mark, welche für die Arbeiter in 16 Jahren verwendet worden sind.

Diese Summe steht in keinem Verhältnis zu den Verletzungen, die der Arbeiter erlitten hat. Er hat nicht nur Gliedmaßen, sondern sehr oft auch sein Leben verloren. Es steht offiziell fest, daß seit zehn Jahren für 99000 Arbeiter die Unterstützung gezahlt worden ist. 99000 Arbeiter bekommen also die 690 Millionen Mark, zu denen sie aber selbst einen großen Teil beisteuern müssen. Wir wissen, daß der deutsche und polnische Arbeiter nicht nur sein Leben riskiert, sondern daß es ihm auch, wenn er invalid geworden ist, erschwert wird, Arbeit zu bekommen. Ist es nicht der Reichstag, der den deutschen Arbeiter unterstützen soll, daß er seine Frau und Kinder ernähren kann, und daß er sich bemüht, ihm Arbeit zu verschaffen? Wir 58 Mann sind es gewesen, die bei der Interpellation zugunsten der Arbeiter dem Reichstag sozusagen die Pistole auf die Brust gesetzt haben, doch wir konnten gegen die Übermacht nichts ausrichten.[1] Wenn wir fragen, wie dem Übel abgeholfen werden soll, so steht der Reichstag da wie ein Kind in einem gewissen Zustande und sagt: „Ich weiß nicht, ich kann nicht!“ Wir sind es gewesen, daß die Zuchthausvorlage[2] nicht durchgekommen ist. Es sollten ja durch dieses Gesetz dem Arbeiter in seinem Streben nach Licht und Freiheit Fesseln an die Hand gelegt werden. Das war der Wunsch des deutschen Kaisers! (Von dem überwachenden Polizeiverwalter wurde die Rednerin hier unterbrochen und ihr eröffnet, daß sie die Person Seiner Majestät weiterhin nicht in ihre Rede hereinziehen dürfe, da sonst die Versammlung aufgelöst werden würde.) Die Rednerin erwiderte darauf: „Sie wissen ja gar nicht, was ich sagen will, wir befinden uns ja nicht im Reichstag!“ und fuhr dann fort. Jeder Arbeiter, der etwas begangen hätte, sollte mit Zuchthaus bestraft werden. Da können Sie der deutschen Sozialdemokratie allein dafür danken, die einen ganz gewaltigen Entrüstungsruf hervorzurufen verstanden hat, daß die Zuchthausvorlage nicht durchgegangen ist. Aber die Justiz ist uns geblieben. Erst in den letzten Tagen ist ein junger Seekadett namens Hüssener, der seinen Untergebenen ohne Grund niedergestochen hat, zu „vier Jahren“ Gefängnis verurteilt worden! Es ist neulich in Mannheim geschehen, daß ein ruhiger Bürger, ein Kaufmann, von

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[1] Gemeint sind die Abgeordneten der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, die bei den Reichstagswahlen am 16. Juni 1898 56 Sitze errungen hatte.

[2] Gemeint ist der Versuch der Regierung, mit einem Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“ vom 20. Juni 1899 gegen die zunehmende Streikbewegung anzukommen und de facto das Koalitions- und Streikrecht der Arbeiter zu beseitigen. Die „Zuchthausvorlage“ wurde gegen die Stimmen der Konservativen am 20. November abgelehnt.