Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 470

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sein eines der beiden Sprachen mächtigen (also in der Regel polnischen) Genossen in einem Kreise zu seiner Aufstellung als Kandidaten verpflichtet und daß z. B. im Kreise Beuthen-Tarnowitz, wo solche Genossen in Hülle und Fülle sind, Dr. Winter nunmehr durch einen polnischen Kandidaten ersetzt werden müsse. Dem ist aber nicht so. Es wurde vielmehr als eine Grundbedingung der Einigung vereinbart, daß die Kandidatur Dr. Winters, wenn die Genossen des Kreises an ihr festhalten, nicht angefochten werden dürfe. Der betreffende Zusatz zu den Leitsätzen des Parteivorstands lautet:

„Die Annahme der Vorschläge des deutschen Parteivorstandes seitens des polnischen Parteivorstandes hat zur Voraussetzung die Durchführung der Auffassung des deutschen Parteivorstandes in bezug auf die Presse und die Reichstagskandidaturen, auch betreffend Dr. Winter.[1]

Dem hatten sich auch die Genossen der poln.-soz. Partei gefügt. Daraus folgt aber, daß nach wie vor nicht das bloße Vorhandensein eines polnisch und deutsch sprechenden Genossen über die Kandidatenfrage entscheidet, sondern der Umstand, wer zur Übernahme der Kandidatur am geeignetsten ist. Und ist es gerade ein deutscher Genosse, wie, dank ihrer Popularität, der Gen. Winter in Oberschlesien oder Gen. Gogowski in Posen, dann werden eben diese aufgestellt, vorausgesetzt selbstverständlich, daß sie die Mehrheit der Genossen des Kreises für sich haben.

Somit blieb es bei dem Grundsatz, den Bebel schon auf dem Hamburger Parteitag in dieser Frage vertrat[2] und der seit jeher in der Praxis der Partei befolgt wurde. Die gänzliche Verschweigung dieser Auffassung, sowie die in bezug auf die Wintersche Kandidatur gemachten Vorbehalte, stellt die auf dem polnischen Parteitag verlesenen Leitsätze in ein falsches Licht und bleibt unbegreiflich angesichts der früheren von den Vertretern der poln.-soz. Partei gegebenen Zustimmung zu diesen Punkten.

Endlich aber wurden noch auf dem Parteitag zwei Beschlüsse gefaßt, die im Sinn und Wortlaut direkt einen Bruch der angeblich akzeptierten Einigungsgrundsätze darstellen.

Erstens wurde als Bestimmung des Statuts der poln.-soz. Partei beschlossen: „Der Parteitag ist die höchste Instanz der PPS. Der Parteivorstand beruft jährlich einen Parteitag ein, der in den polnischen Provinzen stattfinden soll, sofern die örtlichen Verhältnisse dies zulassen.“

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[1] Ebenda, Bl. 126 R; siehe auch S. 458, Fußnote 3.

[2] Gegen den Antrag 41 von Berfus, der forderte, in Wahlkreisen mit überwiegend polnischer Bevölkerung nur solche Reichstagskandidaten aufzustellen, die der deutschen und polnischen Sprache mächtig sind, hatte August Bebel auf dem Hamburger Parteitag 1897 erklärt: „Es handelt sich gar nicht um Polen und Deutsche, sondern einfach um Sozialdemokraten. Ein guter Genosse, der nur deutsch kann, ist geeigneter als ein unfähiger polnischer. Die Genossen haben ihm dann eben Leute zur Unterstützung in der Agitation beizugeben. Finden wir aber Jemanden, der beide Sprachen spricht und die nötigen Fähigkeiten besitzt, so wird er selbstverständlich gewählt. Daher bitte ich den Antrag Berfus abzulehnen. Wir wollen nicht die Kluft zwischen Deutschen und Polen erweitern.“ Parteitagsprotokoll Hamburg 1897, S. 63 und 152.