Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 462

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In Frankreich stehen die Rolle der Kirche und die Rolle der Armee völlig analog zueinander. Vor über einem Jahr schrieben wir über die Dreyfus-Affäre[1] und die Krise des Sozialismus in Frankreich in der „Neuen Zeit“:

„Die Dritte Republik hat sich zur vollendeten Form der politischen Herrschaft der Bourgeoisie ausgebildet, zugleich aber ihre inneren Widersprüche entfaltet. Einer dieser fundamentalen Widersprüche ist der zwischen einer auf der Herrschaft des bürgerlichen Parlaments basierten Republik und einer großen, auf Kolonial- und Weltpolitik zugeschnittenen ständigen Armee. In einer starken Monarchie naturgemäß bloß zu einem gehorsamen Werkzeug in den Händen der Exekutivgewalt reduziert, hat die Armee mit ihrem ausgesprochenen Kastengeist in einer parlamentarischen Republik mit einem alle Augenblick wechselnden Regierungszentrum aus Zivilisten, mit einem wählbaren Staatsoberhaupt, dessen Amt einem jeden aus der ‚Bürgerkanaille‘, ob gewesenem Gerbergesellen oder redegewandtem Advokaten, zugänglich ist, naturgemäß die Tendenz, zu einer unabhängigen, mit dem Staatsganzen nur lose zusammenhängenden Macht zu werden.

Die soziale Entwicklung in Frankreich, welche die Kultur der Interessenpolitik des Bürgertums so weit getrieben hat, daß sie es in Einzelgruppen zerfallen ließ, die, ohne Gefühl der Verantwortlichkeit für das Ganze, Regierung und Parlament zum Spielzeug ihres Eigennutzes gemacht haben, dieselbe Entwicklung hat auf der anderen Seite die Verselbständigung der Armee aus einem Werkzeug des Staatsinteresses zu einer Interessengruppe für sich erzeugt, die ihre Vorteile ungeachtet der Republik, trotz der Republik und gegen die Republik zu verteidigen bereit ist.

Der Widerspruch zwischen der parlamentarischen Republik und der ständigen Armee kann nur in der Auflösung der Armee in der Zivilgesellschaft und in der Organisierung der Zivilgesellschaft zur Armee, in der Ummodelung der Wehrkraft aus einem Werkzeug der Eroberung und der Kolonialherrschaft zu einem Werkzeug der nationalen Verteidigung, kurz, in der Ersetzung des stehenden Heeres durch ein Milizheer seine Lösung finden. Solange diese nicht herbeigeführt ist, macht sich der innere Widerspruch in periodischen Krisen, in Zusammenstößen der Republik mit ihrer eigenen Armee Luft, in denen die handgreiflichen Ergebnisse der Verselbständigung der Armee, ihre Korruption und Disziplinlosigkeit, an den Tag treten. Die Wilson-, Panama- und Südbahnaffäre mußten ihr Korrelat in der Dreyfus-Affäre finden.“[2]

Die Lage, in der sich Armee und Kirche gegenüber der Republik befinden, ist so verwandt, daß sie zu einer innigen Annäherung dieser zwei Mächte geführt und den letzten politischen Krisen in Frankreich eine monarchische Farbe verliehen hat. Jedes Mal haben sich diese beiden Lager in ihrem Aufstand vereint gefunden.

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[1] Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.

[2] Die sozialistische Krise in Frankreich. In: GW, Bd. 1, 2. Halbbd., S. 19.