Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 403

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die alle den grundsätzlichen Fehler machten, daß sie entweder die Welt aus dem Individuum heraus konstruieren, oder den Menschen aus der Welt, der „Substanz“, dem „Absoluten“, dem „Willen“ oder auch einem persönlichen Gott deduzieren wollten. Schon Feuerbach hat den grundsätzlichen Irrtum all dieser spekulativen Philosophien eingesehen, aber er war nur der Tiedemann Giese[1], der den künftigen Kopernikus negativ vorbereitete. Der moderne Sozialismus von Marx und Engels fand ein neues Zentrum der Weltbetrachtung, die Gesellschaft. Er wollte das Rätsel der Gesellschaft lösen, und der Einblick in das Leben und die Geschichte der Gesellschaft mußte ihm „die Welt“ und deren Gesetze erklären. Die Gesellschaft, die nicht bloß aus einer einfachen Addition der Individuen hervorgeht, sondern die ein sehr lebhaft pulsierendes Eigenleben hat, deren feinste und kostbarste Säfte eben in den verschiedenen Systemen roulieren, die der forschende und denkende Menschengeist zu allen Zeiten sich zurechtgeformt hat. Die philosophischen und religiösen Systeme, die bisher den Mittelpunkt der Weltbetrachtung gebildet hatten, wurden von dem neuen Kopernikus hinausgeworfen in den leeren Raum, und kreisen planetenartig um das neu gefundene Zentrum, die Licht, Wärme und Leben spendende Sonne der menschlichen Gesellschaft, die sich stets aus sich selbst erneut und verjüngt und deren Ausstrahlungen und gelegentliche Kraft- und Stoffabsonderungen das Planetensystem der Geschichte der Philosophien und Religionen bilden.

Von dieser gesellschaftlichen Betrachtung der Welt und der menschlichen Geschichte aus begreift der moderne Sozialismus die welthistorische Aufgabe des Proletariats. Schon vor 60 Jahren hat der junge Marx im Proletariat die Klasse gesehen, die einzig dazu berufen wäre, die geistige Überwindung des christlich-germanischen Mittelalters in Deutschland heraufzuführen.[2] Wenn der Blitz der neuen Menschheitsideale eingeschlagen haben werde in den warmen Boden dieser Klasse, die selbst die Auflösung aller bestehenden Klassen der alten Welt sei, dann werde der deutsche Auferstehungstag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen Hahns. Heute haben wir in Deutschland, in der ganzen zivilisierten Welt, genau so viel Revolution, so viel geistige Befreiung der Köpfe erlebt, als die Ideen des Sozialismus Ausbreitung gefunden haben. Nicht nur der deutsche Ostertag, den der junge Marx damals so heiß herbeisehnte, ist nahe, sondern der Auferstehungstag des ganzen internationalen Proletariats. Der Sozialismus ist eine geistige Weltmacht geworden; er ist heute eine neue Religion, ein neuer Glaube, zu dem sich die größte Gemeinde der Welt, die kämpfende Arbeiterschaft, freudig und hoffend bekennt. Ein halbes Jahr

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[1] Gemeint ist der Bischof Tiedemann Bartholomäus Giese von Culm und Ermland (1480–1550), einer der hervorragenden Vertreter des Humanismus, der mit Nikolaus Kopernikus befreundet war und dessen heliozentristische Lehre in dem später verlorengegangenen Traktat „Hyperaspistes“ verteidigte.

[2] Siehe Karl Marx: „Zur Judenfrage“ und „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“. In: MEW, Bd. 1, S. 356 ff. und 390 f. Rosa Luxemburg lehnte sich begrifflich sinngemäß an Äußerungen in den beiden Arbeiten an.