Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 353

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/353

alle eine gleiche Arbeitszeit von zehn Stunden bestehe, eine derartige Grenze nicht festgesetzt sei. Ein Altersversicherungsgesetz besteht nur in Deutschland, doch genüge dieses Gesetz auch in keiner Weise. Wie könne ein durch hohes Alter gebrechlich gewordener Mensch [von] 39 Pfennigen täglicher Pension leben, man möge doch den Herrn Ministern, wie überhaupt den Beamten einmal eine tägliche Pension von 39 Pfennigen geben, dann hätte man sicher in kürzester Zeit den Umsturz im Staate. Es sei eben die alte Sache, für den Militarismus, für Handel und Gewerbe werde alles bewilligt, nur für den Arbeiter werde nicht in der genügenden Weise gesorgt. Die Sozialgesetze seien für den Arbeiter, was die Jagdgesetze für das Wild sind. Es wird eine Schonzeit für das Wild festgesetzt, um hernach dasselbe in desto größeren Mengen für den Kochtopf der Kapitalisten vernichten zu können. Wenn heute von frischgebackenen Professoren behauptet wird, die Sozialdemokratie sei selbst das größte Hindernis für ein Emporblühen des Arbeiterstandes, so sei diese Behauptung grundfalsch, es sei gerade durch die bereits über 100 Jahre gemachte Beobachtung, sowie durch das wohlüberlegte Handeln der Sozialdemokratie der Arbeiter zu dem geworden, was er heute sei. Je mehr der Arbeiter aber den heute noch vorhandenen Unterschied zwischen der Idealstellung und dem gegenwärtigen Stande der Sozialdemokratie erkenne, je mehr müsse er tatkräftig in den heißen Kampf für das Wohl des Proletariats eintreten. Wenn auch in der letzten Zeit weniger durch sozialdemokratische Diskussionen agitiert worden sei, so sei doch durch stille, wohlüberlegte Tat desto mehr erreicht. Wendet man seine Blicke dem Auslande zu, so sei auch hier erfolgreich gearbeitet worden; sei doch der jetzt in Italien erfolgte Sturz des Ministeriums eine direkte Folge der Vernachlässigung des Arbeiterstandes gewesen.[1] In Frankreich sei, obwohl dort ein Sozialist im Ministerium sitze, die Sache der arbeitenden Klasse nur sehr langsam vorangegangen; dennoch sei man auch in diesem Lande so weit gekommen, daß man heute den Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft befürchtet, da die arbeitende Klasse immer mehr die staatliche Macht an sich reiße[2]

Zum Schlusse fordert Referentin auf, tatkräftig für die Sozialdemokratie einzutreten.

Nächste Seite »



[1] Gemeint ist der Versuch der Regierung, mit einem Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“ vom 20. Juni 1899 gegen die zunehmende Streikbewegung anzukommen und de facto das Koalitions- und Streikrecht der Arbeiter zu beseitigen. Die „Zuchthausvorlage“ wurde gegen die Stimmen der Konservativen am 20. November abgelehnt.

[2] Siehe Rosa Luxemburg: Die Affäre Dreyfus und der Fall Millerand. Antwort auf eine „internationale Umfrage“. In: GW, Bd. 6, S. 277 ff.; dies.: Notiz [zum Fall Millerand]. In: ebenda, S. 322 ff.