Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 337

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raubt, inzwischen zu einem Riesenpalast angewachsen ist?[1] Gewiß hat sich die Lage des Arbeiters gebessert, aber der Abstand zwischen ihm und dem Reichen ist deshalb nicht kleiner, sondern er ist ganz erheblich größer geworden. Auch der Hinweis auf die Erfolge der englischen Gewerkschaften ist verfehlt. Allerdings haben s[einer] Z[eit] die englischen Unternehmer in der Zeit der goldenen Ernte den Gewerkschaften einige Brocken hingeworfen, wie aber sieht es jetzt aus? Man denke nur an den großen Streik der Maschinenbauer,[2] der so überaus große Opfer erforderte und doch so unselig endete? Wie groß ist übrigens denn die Zahl der englischen Arbeiter, denen die Erfolge der Gewerkschaften zugute kamen? Es sind etwa 1800000 Personen, kaum zwanzig Prozent der sämtlichen erwachsenen Arbeiter Englands. Indes ein großer Teil der englischen Arbeiter bewegt sich in seiner Lebenshaltung unter dem Niveau der in England üblichen Lebenshaltung. Das Schlagwort von der industriellen Demokratie ist in England erfunden worden. Nach der Meinung gewisser bürgerlicher Sozialreformer ist die Tarifgemeinschaft schon der Anfang vom Ende der kapitalistischen Herrlichkeit, schon der Beginn der Herrschaft des Sozialismus. Diese Bewunderer der „industriellen Demokratie“ vergessen aber, den Arbeitern zu sagen, daß die formelle Gleichberechtigung derselben eins der Grundgesetze der kapitalistischen Gesellschaft ist. Die Behandlung der Arbeiter, wie sie Papa Stumm[3] übte, ist nicht die Regel, sondern eine Abnormität. In der Beseitigung solcher Schlacken der Leibeigenschaft liegt nicht eine Konzession an den Sozialismus, sondern der Übergang der kapitalistischen Produktion zu einer rationelleren Stufe.

Im großen wirtschaftlichen Getriebe vollziehen sich so gewaltige Wandlungen, daß alle Sozialreform, alle industrielle Demokratie dagegen ohnmächtig sind. Was kann die bürgerliche Sozialreform gegen die gewaltigen Krisen, die das Wirtschaftsleben in seinen Grundfesten erschüttern? Was kann sie, was kann die Gewerkschaft gegen die immer fortschreitende Kartellierung? Das Kapital ballt sich überall zur Faust, die mit unwiderstehlicher Gewalt auf die Arbeiter hinabsaust. Die beiden Webb sagen treffend über die Kartelle: „Wenn die ganze Industrie in der Hand eines einzigen Großen liegt oder unter eine kleine Zahl nicht konkurrierender Unternehmer verteilt ist, dann findet die Gewerkschaft, daß ihre Methoden der gegenseitigen Ver

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[1] Sinngemäß verkürzt zitiert, bei Marx heißt es: „Ein Haus mag groß oder klein sein, solange die es umgebenden Häuser ebenfalls klein sind, befriedigt es alle gesellschaftlichen Ansprüche an eine Wohnung. Erhebt sich aber neben dem kleinen Haus ein Palast, und das kleine Haus schrumpft zur Hütte zusammen. Das kleine Haus beweist nun, daß sein Inhaber keine oder nur die geringsten Ansprüche zu machen hat; und es mag im Laufe der Zivilisation in die Höhe schießen noch so sehr, wenn der benachbarte Palast in gleichem oder gar in höherem Maße in die Höhe schießt, wird der Bewohner des verhältnismäßig kleinen Hauses sich immer unbehaglicher, unbefriedigter, gedrückter in seinen vier Pfählen finden.“ MEW, Bd. 6, S. 411.

[2] Von Juli 1897 bis Januar 1898 streikten etwa 70000 Maschinenbauarbeiter Englands für eine achtstündige Arbeitszeit. Trotz der starken Solidaritätsbekundungen englischer und deutscher Arbeiter endete der Streik mit einer Niederlage.

[3] Gemeint ist Carl Freiherr von Stumm-Halberg. Er, Großindustrieller und Freund Wilhelms II., Mitbegründer und Führer der Deutschen Reichspartei, sowie Arthur Graf von Posadowsky-Wehner, Staatssekretär im Reichsamt des Innern und Vizekanzler von 1897 bis 1907, verfochten als schärfste Gegner der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie die Anwendung brutaler Gewalt bei der Unterdrückung der Arbeiterklasse. Arthur Graf von Posadowsky-Wehner hatte am 11. Dezember 1897 an die Regierungen der deutschen Einzelstaaten ein geheimes Rundschreiben gesandt, in dem er Vorschläge für gesetzliche Maßnahmen gegen das Streikrecht und die Koalitionsfreiheit forderte. Der deutschen Sozialdemokratie war es gelungen, das Geheimdokument in die Hand zu bekommen und am 15. Januar 1898 im Vorwärts zu veröffentlichen.