Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 338

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/338

sicherung und des Kollektivverbandes so gut wie nutzlos sind. Gegenüber den unbeschränkten Hilfsmitteln, dem sicheren Kundschaftsmonopol, der absoluten Willenseinheit dieser modernen Leviathane ist das 5-Millionen-Mark-Vermögen der reichsten Gewerkschaft und die Empörung von 1[00000]–200000 hartnäckigen und erbitterten Arbeitern so wirkungslos wie Pfeile gegen ein Panzerschiff.“[1] Angesichts solcher Wandlungen, solcher sich stets steigernder Anarchie erscheinen Gewerkschaften und bürgerliche Sozialreform als schwächlicher Notbehelf. Und es ist ein weltgeschichtliches Verdienst der Sozialdemokratie, den Arbeitern gesagt zu haben, daß all’ jene Mittelchen unzulänglich sind und daß es in allererster Reihe gilt, die politische Staatsgewalt zu erobern. (Beifall.)

Die bürgerlichen Sozialreformer behaupten, die Sozialdemokratie sei deshalb gar nicht für praktische Arbeit geeignet, weil sie, wie eine alte Jungfer auf den Bräutigam, auf den großen Kladderadatsch wartet. Das ist ein Blödsinn, wie er nur im Hirn eines immerfort in der Studierstube hockenden Gelehrten ausgebrütet werden kann. Die beste Widerlegung gibt die Geschichte der Arbeiterbewegung. Kein Geringerer wie Bismarck war es, der der Sozialdemokratie offen das Verdienst zuschrieb, das, was wir an Sozialreform haben, verursacht zu haben. Gerade weil wir den Arbeitern den nimmersatten Hunger nach Luft und Licht beigebracht haben, gerade dadurch haben wir die bürgerliche Gesellschaft genötigt, Stück um Stück ihrer Sozialreform herzugeben.

Was sind die Gewerkschaften und die Sozialreform vereint mit unserer politischen Tätigkeit. Sie sind der beste Hebel zur Hebung der gegenwärtigen Lage und zugleich zur Hinführung zum Endziel. Als Gegensatz zur Sozialdemokratie aber bedeuten die ersten beiden Verlängerung und Erhaltung der kapitalistischen Herrschaft. Unsere Gegner verfahren nach dem alten Grundsatze: Divide et impera! (Teile und herrsche.) Sie wissen es, daß keine Macht der Erde uns zu bezwingen vermag, wenn wir zusammenhalten, darum suchen sie uns zu spalten. Darum sucht man uns die Gewerkschaften abtrünnig zu machen, darum ist man bemüht, uns dem Klassenkampfe abwendig zu machen. Aber die Herren Sozialreformer sind zu spät aufgestanden. Der deutsche Arbeiter hat nicht umsonst die letzten dreißig Jahre, die schwere Zeit des Sozialistengesetzes durchgekämpft. Heut weiß der deutsche Arbeiter, daß er alles dank der Sozialdemokratie er

Nächste Seite »



[1] Mit Auslassungen frei zitiert nach Sidney und Beatrice Webb: Theorie und Praxis der Englischen Gewerkvereine (Industrial Democrazy). Deutsch von C. Hugo, Zweiter Band, Stuttgart 1898, S. 92 f., wo es heißt: „Wenn dagegen die ganze Industrie in der Hand eines einzigen Großunternehmers liegt oder unter eine kleine Zahl nicht konkurrierender Unternehmer verteilt ist – besonders wenn das Monopol in irgend einer Weise gegen neue Rivalen geschützt ist –, dann findet der Gewerkverein, daß seine Methoden der gegenseitigen Versicherung und kollektiven Vertragschließung so gut wie nutzlos sind. Das gilt z. B. für die großen Eisenbahngesellschaften des Vereinigten Königreiches und einige der großen kapitalistischen Trusts der Vereinigten Staaten. Gegenüber den unbeschränkten Hilfsmitteln, dem sicheren Kundschaftsmonopol, der absoluten Willenseinheit dieser modernen industriellen Leviathane, ist das Viertelmillionensvermögen des reichsten Gewerkvereins und das Geschrei von ein- oder zweihunderttausend hartnäckiger und erbitterter Arbeiter so wirkungslos wie Pfeile gegen ein Panzerschiff.“