Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 336

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Gewerkschaften: „Wenn der erste Zweck des Widerstandes nur die Aufrechterhaltung der Löhne war, so formieren sich diese anfangs isolierten Koalitionen in dem Maß, wie die Kapitalisten ihrerseits sich behufs der Repression vereinigen zu Gruppen, und gegenüber dem stets vereinigten Kapital wird die Aufrechterhaltung der Assoziationen[1] notwendiger für sie als die des Lohnes.“[2] Wenn es einmal innerhalb der Sozialdemokratie eine Fraktion (Schweitzer)[3] gab, welche den Gewerkschaften abhold war, so gab das heftige Kämpfe mit der anderen Richtung, den Eisenachern,[4] und diese Kämpfe endeten mit dem vollen Sieg der Letzteren. Es ist geradezu abgeschmackt, die Sozialdemokratie über den Wert der Gewerkschaften belehren zu wollen. Wenn jene bürgerlichen Schwärmer für die Gewerkschaften aber behaupten, daß dieselben durch unermeßliche Steigerung des Lohnes den kapitalistischen Profit allmählich beseitigen, den Sozialismus gewissermaßen durch ein Hintertürchen in die Gesellschaft einführen könnten, so bekunden sie damit nur ihre völlige Verkennung aller tatsächlichen Verhältnisse, eine fast unglaubliche Unwissenheit in ökonomischen Dingen. Die industrielle Reservearmee bildet sich immer neu, findet täglich neuen Zuzug und so bleibt der Kapitalist immer im Vorteil gegen den Arbeiter, dem er im Lohn nur das zum Leben Notwendigste verabfolgt. Gewiß bindet die Gewerkschaft die Arbeiter fest zusammen und setzt sie in die Lage, die Konjunktur zur gewissen Besserung ihrer wirtschaftlichen Lage auszunutzen. Aber kann sie z. B. den Unternehmer zwingen, mehr Arbeiter anzustellen, um so allmählich diese industrielle Reservearmee verschwinden zu lassen? Gewiß werden wir die Gewerkschaften nicht herabsetzen, aber es ist unsere Pflicht, gefährliche Illusionen über die vermeintliche Bedeutung der Gewerkschaften zu zerstören. Die wortreichen vielversprechenden Schmeichler der Gewerkschaften sind nicht ihre besten Freunde. (Beifall.)

Gewiß haben die Gewerkschaften auch die wirtschaftliche Lage der Arbeiter gehoben, aber man komme beim Vergleich der Unterschiede in der Lage der Arbeiter nicht immer mit dem Hinweis auf die Lage derselben vor 50–60 Jahren. Auch der Bettler in der modernen Großstadt lebt heute in gewisser Beziehung komfortabler als ein vor tausend Jahren lebender Fürst. Der Bettler benutzt zum Feuermachen gewiß die allen erreichbaren schwedischen Streichhölzer, während jener Fürst mühsam Holzstücke aneinander reiben mußte, wenn er Feuer haben wollte. Jede soziale Lebenslage will aber aus ihrer eigenen Zeit heraus beurteilt werden. Auch die Lage der besitzenden Klassen hat sich von Grund aus geändert. Marx sagt in seinem Werke „Lohnarbeit und Kapital“: „Was hilft mir, daß ich jetzt statt in einer elenden Hütte im ordentlichen Hause wohne, wenn das Haus meines Nachbarn daneben, das mir Licht und Luft

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[1] Im Text Rosa Luxemburgs: Koalitionen.

[2] Karl Marx. Das Elend der Philosophie. In: MEW, Bd. 4, S. 180.

[3] Die Gemeint sind die Anhänger von Johann Baptist von Schweitzer, 1867–1871 Präsident des ADAV.

[4] Eisenacher wurden die Mitglieder der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei genannt, deren Gründungskongreß vom 7. bis 9. August 1869 in Eisenach stattgefunden hatte.