Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 272

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haben und wenn wir immer wieder unseren Besitzstand verteidigen müssen, so sind daran weder unsere Grundsätze noch unsere Taktik schuld, sondern die bürgerliche Gesellschaft. Deshalb ist ja diese Gesellschaft so miserabel, deshalb ist es ja so notwendig, auf ihre Aufhebung hinzuarbeiten, weil in ihr für das Volk so wenig zu erreichen ist. Unsere Sünde in den Augen der Opportunisten ist, daß wir uns nicht selbst und nicht andere darüber täuschen, sondern daß wir sagen: Hofft nicht zu viel von der bürgerlichen Gesellschaft, deren Schätze wir nur mit ihrem Leben bekommen. Die Opportunisten verfahren ganz umgekehrt. Da sie die Augenblickserfolge des alltäglichen Kampfes vergrößern wollen, so hoffen sie dies dadurch zu erreichen, daß sie der bürgerlichen Gesellschaft selbst Zugeständnisse machen und den grundsätzlichen Kampf gegen sie aufgeben. Es läßt sich aber leicht sehen, welche Taktik – ob unsere oder die opportunistische – tatsächlich die praktischere ist.

Nehmen wir an, das Proletariat hat nach dem Rezept des Gen. Heine für Bewilligung militärischer Forderungen das Stimmrecht bekommen. Ist eine solche Errungenschaft etwa praktischer und dauernder, als wenn wir sie durch einen rücksichtslosen revolutionären Kampf, wie in Belgien, erkämpft haben? Wenn wir für Kanonen das Stimmrecht erhalten haben, so richten sich morgen die Kanonen gegen uns, wo es dann heißt: Her mit dem Stimmrecht! Oder sehen wir, welchen praktischen Nutzen der neueste bayerische Kuhhandel gebracht hat. In der bayerischen Kammer gaben früher, wo weder das Zentrum noch der Freisinn die Majorität hatten, die Sozialdemokraten häufig den Ausschlag, heute, wo sie dem Zentrum selbst die Majorität gesichert haben, sind sie das fünfte Rad am Wagen. Obendrein verliert dabei die Sozialdemokratie das Vertrauen des Volkes. Die katholischen Arbeiter, unter denen nun die bayerischen Sozialdemokraten durch eine scharfe Kritik des Zentrums im Landtag Eroberungen zu machen hoffen, werden sich sagen: Das ist ja eine schöne Bande, gestern verhelfen sie uns selbst zur absoluten Majorität, heute beschimpfen sie uns. Oder würde uns vielleicht das süddeutsche Agrarprogramm große Anhängerscharen auf dem platten Lande zugeführt haben? Wenn die Bauern sehen, daß der ganze versprochene Schutz ihres Besitzes agitatorischer Schwindel ist, versetzen sie uns den verdienten Fußtritt.

Und es geht in allem so. Es zeigt sich nämlich, daß die Opportunisten, die mit der praktischen Politik beständig den Mund voll nehmen, daß sie im Grunde genommen die allererbärmlichsten Praktiker sind. Von der bürgerlichen Gesellschaft ist tatsächlich sehr wenig für die Arbeiter zu erhoffen. Aber das, was zu erreichen ist, läßt sich nur mit der alten bewährten Taktik der Sozialdemokratie und nicht durch Schacher, durch Zugeständnisse, durch Vertuschung der Endziele erreichen.

Mit unserer grundsätzlichen revolutionären Taktik erobern wir uns das Vertrauen des Volkes und die Furcht der Agrarier, die Opportunisten aber verdienen sich beim Volke wie bei den Gegnern nur Verachtung. Die bürgerliche Presse lobt jetzt überall Bernstein und seine Anhänger, und das beweist eben, daß man sie für zahm und un

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