Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 237

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talen Gewalthabern von der Tribüne des Reichstages ins Gesicht geschleudert hatte: „Ihre Waffen werden in diesem Kampfe zersplittern wie Glas am Granit“,[1] – dieses Wort ist in Erfüllung gegangen. Auf dem Kampfplatze stand allein die Partei der Proletarier siegreich und stolz, mit gesprengten Fesseln in der kampferprobten Hand. Zwölf Jahre harten Ringens lagen hinter ihr. Zwölf Jahre dauerte das Sozialistengesetz, und wie anders standen sich jetzt die feindlichen Mächte – die kapitalistische Gesellschaft – und die Arbeiterklasse gegenüber! Die Sozialdemokratie ging aus dem Kampfe gewachsen, innerlich gestärkt, prinzipiell geklärt, moralisch gehoben hervor. Unter dem Sozialistengesetz haben sich ihre Kräfte gestählt, aus ihm hat sie die eiserne Disziplin, die Einigkeit und den Feuereifer geschöpft, die sie jetzt zum Schrecken der Feinde machen. Die kapitalistische Gesellschaft und ihre Regierung gingen aus der Ära des Ausnahmegesetzes politisch niedergeschmettert, moralisch geknickt hervor. Die zwölf Jahre wilder Jagd gegen das Proletariat haben ihr nichts als eine Reihe furchtbarer Niederlagen gebracht und nur ihre ganze innere Gebrochenheit, Zersetzung, Fäulnis ans helle Tageslicht gezerrt.

Der italienische Geschichtsphilosoph Vico[2] behauptete, die Menschheit drehe sich im Zirkel, ihre Geschichte sei eine langsame, aber stete Wiederholung derselben Kreise. Für die Menschheit im ganzen trifft das Wort nicht zu. Die Menschheit dreht sich nicht im Zirkel, sie schreitet, wenn auch manchmal in seltsam verschlungenen Linien, immer vorwärts zum Licht und zur Wohlfahrt. Aber das Wort des alten Philosophen bewährt sich, wenn man die Bewegung der untergehenden Klassen ins Auge faßt, die alten verfallenden Gesellschaften, die ihr im Buche der Geschichte bereits gestrichenes Existenzrecht um jeden Preis zu verteidigen, die neuen Lebenskeime der weiteren Entwicklung mit aller Gewalt zu ersticken suchen, – sie drehen sich tatsächlich im Zirkel, sie wiederholen im Kampfe gegen die aufstrebenden Klassen notwendig immer dieselben verzweifelten, aber vergeblichen Versuche.

Seit dem Falle des Sozialistengesetzes sind kaum acht Jahre verflossen, und die Verhältnisse in Deutschland beginnen eine erschreckende Ähnlichkeit mit der Lage von vor 20 Jahren zu verraten. Wir hatten wieder eine Ära des kapitalistischen Aufschwungs, auf die der Aschermittwoch der Depression folgen muß, die Ausbeuterklasse ruft wieder nach Schutzzöllen, die Regierung ruft nach Steuern, und beide

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[1] Zitiert nach August Bebels Rede am 7. November 1889 im Reichstag gegen die unbefristete Verlängerung des Sozialistengesetzes, in der er sagte: „Gegenüber dieser Kulturbewegung werden die schärfsten Waffen, welche Sie aufgrund dieses Gesetzes anwenden, wie Glas am Granit zersplittern.“ August Bebel: Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 2/1, Berlin 1978, S. 630.

[2] Gemeint ist der Humanist, Historiker, Philosoph und Anthropologe Giovanni Battista Vico, der von 1668 bis 1744 in Neapel lebte und an dessen geschichtsphilosophisches Denken auch Herder und Marx anknüpften. „Grundzüge einer neuen Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker“ von 1725 gilt als sein Hauptwerk. Er systematisierte einen Zyklus von drei Gesellschaftsformationen, die er als Zeitalter der Götter, der Heroen und der Menschen bezeichnete und u. a. behauptete, daß ein ursprünglicher Gemeinschaftsgeist durch berechnenden Eigennutz aufgehoben würde.