Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 236

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erfolgte ein dritter Hauptstreich der Regierung: der Belagerungszustand über Leipzig. 53 Ausweisungen von Parteimitgliedern waren das sofortige Ergebnis. Und die Antwort der Leipziger Arbeiterschaft war – die Wahl Bebels in den Sächsischen Landtag. Die Regierung griff darauf zu der neuen Waffe, dem Hochverratsprozesse, und verurteilte mehrere Genossen insgesamt zu 19 Jahren Zuchthaus.

Alles blieb erfolglos. Im Gegenteil, die Bewegung schreitet rüstig fort. Seit 1882 kommen auch die zerschmetterten Gewerkschaften wieder in Schwung. 1883 mustert die Partei ihre Kräfte auf dem Parteitag in Kopenhagen, [1] im gleichen Jahre schafft sie sich eine neue Waffe – die wissenschaftliche Revue „Die Neue Zeit“. Inmitten des aufreibendsten, schwersten praktischen Kampfes denkt sie an theoretische Klärung und Ausbildung in den eigenen Reihen … 1884 gründet sie in Berlin selbst ein tägliches „Volksblatt“. [2]

Inzwischen dauern die Verfolgungen fort, die schwersten Opfer werden zum täglichen Brot. Die Partei kämpft und schreitet fort unter dem tödlichsten Feuer des Feindes so ruhig und zielsicher, als wenn der Ausnahmezustand das normalste Milieu für sie wäre. Seit 1886 beginnen die Brutalitäten der Regierung mit verdoppelter Kraft, das ablebende Ungetüm des Sozialistengesetzes kämpft mit blinder Verzweiflung seinen letzten Kampf. Gegen die Gewerkschaften wird durch das Puttkamersche Streikgesetz,[3] gegen die Sozialdemokratie durch eine Flut von Geheimbundprozessen eine neue Attacke geführt. Das Ergebnis ist – ein mächtiges Wachstum der sozialdemokratischen Stimmen. Hatte die Partei im Jahre 1878 eine Einbuße erlitten und 1881 nur noch ca. 300000 Stimmen verzeichnen können, so erzielte sie im Jahre 1884 wieder über eine halbe Million, und im Jahre 1887 gaben ihr über 760000 deutsche Wähler ihre Stimmen!

Nach den Wahlen von 1887 fühlte jedermann, daß das Schandgesetz seine letzten Tage lebt. Noch schlug es wütend um sich, noch prasselten Verhaftungen, Prozesse, allerlei Verfolgungen auf die Sozialdemokratie herab. Aber das Spiel der Reaktion war ausgespielt. Es folgte der denkwürdige Tag des 20. Februar 1890, an dem anderthalb Millionen deutsche Wähler ihre Anhängerschaft an die gemaßregelte, gehetzte, verfolgte Sozialdemokratie mit Donnerstimme bekundeten. Und unter der Wucht dieses vernichtenden Urteilsspruches des Volkes stürzte das Werk der Reaktion und zog seinen Schöpfer, den Blut- und Eisenmenschen Bismarck, mit in den Abgrund hinab. Das stolze Wort, das Bebel gleich im Anfang des Sozialistengesetzes den bru

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[1] Der Kongreß der Deutschen Sozialdemokratie in Kopenhagen fand vom 29. März bis 2. April 1883 statt.

[2] Die erste Nr. des Berliner Volksblatts erschien am 1. April 1884. Aus ihm ging der Vorwärts hervor, dessen erste Nr. am 1. Januar 1891 erschien und dessen Chefredakteur Wilhelm Liebknecht wurde.

[3] Robert von Puttkamer, 1881 bis 1888 preußischer Innenminister, setzte das Sozialistengesetz brutal durch und verfolgte nicht nur Sozialisten, sondern alle fortschrittlichen Kräfte. In einem Streikerlaß vom 11. April 1886 verlangte er von allen Staatsorganen verschärftes Vorgehen gegen Streiks, Streikende, deren Führer und forderte die Polizei offen zu ungesetzlichem Vorgehen gegen die Arbeiterbewegung auf.