Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 234

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/234

funden hatten, suchten nach Mitteln, um sich für die Verluste auf ausländischen Märkten zu entschädigen, und als bestes Mittel boten sich hierfür Schutzzölle, d. h. Prellerei des inneren Konsumenten, des deutschen Volkes vermittelst künstlich hochgeschraubter Warenpreise. Dasselbe erstrebten auch ostelbische Junker, die durch die Konkurrenz des nordamerikanischen Getreides im gehörigen Auspowern des deutschen Volkes gestört waren. Gleichzeitig suchte die Regierung, die sich durch die „glücklichen“ Kriege eine ungeheuere Last des Militarismus auf den Hals geschafft hatte, die sie nun tragen mußte, hastig nach neuen Mitteln, den deutschen Steuerzahler zu schröpfen und sann deshalb auf neue Steuervorlagen. Für den geplanten Beutezug der Schutzzöllner und des Fiskus war nun aber der Reichstag Ende der 70er Jahre nicht zu haben. Denn andere kapitalistische Ausbeuterinteressen – die Interessen des Großhandels vor allem – verlangten umgekehrt Freiheit des Warenverkehrs, und wenn die konservative und ultramontane Partei nach Schutzzöllen riefen, so waren Nationalliberale und Fortschrittler dagegen, und um ihre Pläne zu verwirklichen, mußte die Regierung Bismarcks den Widerstand des Reichstages brechen oder den Reichstag unter irgendeinem Vorwand auflösen.

So gestalteten sich in Deutschland die Verhältnisse um das Jahr 1878. Einerseits zog die Regierung im Interesse der ganzen bürgerlichen Gesellschaft zum Kampfe mit der Arbeiterklasse aus, anderseits mußte sie im Interesse des reaktionären Teils dieser Gesellschaft gegen den weniger reaktionären ausrücken. [Die Vorlagen] des Reichstags und Gewaltmaßregeln gegen die Sozialdemokratie, das waren das klare und feste Programm Bismarcks [gegen unsere] [1] Partei. Es fehlte nur noch ein Vorwand, und der ließ auf sich nicht warten. Es erfolgten die bekannten zwei Attentate Hödels und Nobilings auf den deutschen Kaiser.[2] War auch Hödel ein verkommener Mensch, mit dem die Arbeiterbewegung nicht das Geringste zu tun haben wollte, war auch Nobiling notorisch ein Anhänger des christlich-sozialen Stoeckers, – die beiden wahnwitzigen Attentate wurden trotzdem sofort der Sozialdemokratie in die Schuhe geschoben, die bürgerlichen Oppositionsparteien in Schreck und Panik gejagt, der Reichstag aufgelöst und ein neuer unter dem höchsten Polizeidruck zusammengebracht. Das Werk war getan, der neue Reichstag war ein williges Werkzeug der reaktionären Pläne der Regierung. Das Sozialistengesetz wurde sofort eingebracht, nach langen Debatten angenommen und mit dem 21. Oktober 1878 begann eine neue Ära für die deutsche Arbeiterbewegung, eine Ära der brutalsten, gewaltigsten Verfolgungen, aber auch des verzweifelten heroischen Kampfes auf Tod und Leben. Charakteristischerweise begann die unendliche Reihe der Verfolgungen, die seit dem 21. Oktober zwölf Jahre hindurch aufeinander folgten, mit dem Verbot einer Gedichtsammlung

Nächste Seite »



[1] Die beiden in [ ] gesetzten Formulierungen stehen für zwei in der Quelle unleserliche Stellen.

[2] Hödel verübte das Attentat am 11. Mai 1878, Nobiling am 2. Juni 1878; durch ihn wurde Wilhelm I. schwer verletzt. Der Reichstag wurde auf Betreiben des Reichskanzlers Bismarck am 11. Juni 1878 aufgelöst und am 30. Juli 1878 neu gewählt.