Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 227

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/227

gig, und nachdem er gesagt hat, daß solche Krisen in der Zukunft kaum zu gewärtigen wären, bildet er sich ein, auch die ganze „Zusammenbruchstheorie“ vernichtet zu haben. Er oktroyiert uns seine Schablonen und beweist sodann, daß diese Schablonen vollständig schablonenhaft sind. Und dann freut er sich gewaltig über diese billigen Triumphe. Man sieht es an dem Tone, in dem er die „Dogmatiker“ belehrt.

Sie werden sich wohl erinnern, hochverehrter und lieber Genosse, wie viele auf dem Stuttgarter Parteitag den Ton getadelt haben, in dem Parvus gegen Bernstein polemisiert hatte. Ich glaube, wenn Parvus in einem anderen Tone polemisiert hätte, so hätte Bernstein keinen Vorwand gehabt, sich in Schweigen zu hüllen. Dann hätte auch alle Welt die frappante Gedankenarmut Bernsteins klar sehen können. Deshalb bedauere auch ich, daß Parvus sich nicht gemäßigt hat. Aber ich begreife auch vollständig seinen Zorn. Nach meinem Dafürhalten wurde er auch durch die Umstände vollständig gerechtfertigt. Außerdem hat niemand von denen, die Parvus getadelt haben, den unangenehmen Ton Bernsteins selbst beachtet. Das war der Ton eines selbstsicheren, selbstgefälligen Pedantismus. Als ich die Belehrungen las, welche Bernstein an die „Dogmatiker“ der deutschen und zum Teil auch der englischen Sozialdemokratie richtete, da sagte ich mir: Wäre Sancho-Pansa nicht zum Gouverneur, sondern zum Professor der Sozialwissenschaften ernannt, und wäre sein angeborener gesunder Verstand einer plötzlichen Anwandlung von Dünkel erlegen, so würde er keinen anderen als eben den Bernsteinschen Ton anschlagen. Ich weiß: de gustibus non est disputandum – die Geschmäcker sind verschieden –, aber ich glaube, daß vielen diese Tonart weit antipathischer ist als der heftige leidenschaftliche Ton.

Sie geben selbst zu, hochverehrter und lieber Genosse, daß Sie von der Inhaltslosigkeit jener Artikelserie überrascht waren, der Bernstein den vielverheißenden Titel gab: „Die Probleme des Sozialismus“. Und doch sagen Sie, daß diese inhaltsleeren Artikel uns zum Nachdenken veranlaßt hätten. Sie sind für Bernstein voreingenommen und deshalb sind Sie sehr ungerecht.

Sie sagten in Stuttgart: „Man hat Bernstein vorgeworfen, daß seine Artikel unsere Siegeszuversicht verringern, dem kämpfenden Proletariat in die Arme fallen. Dieser Ansicht bin ich nicht… Wenn die Artikel von Bernstein wirklich den Einen oder den Anderen in seiner Überzeugung wankend gemacht haben sollten, dann wäre es nur ein Beweis, daß es um solche Leute nicht sehr schade ist, daß ihre Überzeugung nicht sehr tief gewurzelt hatte und daß sie die erste Gelegenheit benutzten, um uns den Rücken zu kehren, und dann können wir froh sein, daß es jetzt schon geschieht, statt bei der Katastrophe, wo wir jeden Mann brauchen.“[1]

Wen konnten denn die Artikel von Bernstein entmutigen? Doch offenbar nur den, der sich, wenn auch nur zeitweise, auf den neuen Standpunkt Bernsteins gestellt hatte. Der Übergang zu diesem Standpunkt mußte jeden logisch denkenden Menschen not

Nächste Seite »



[1] Parteitagsprotokoll Stuttgart 1898, S. 130.