Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 226

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denschaftlich gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem entflammen, die Volksmassen so eindringlich von der Unmöglichkeit überzeugen, unter der Herrschaft dieses Systems die gegebenen Produktivkräfte zum Wohle der Gesamtheit zu leiten, daß die gegen dieses System gerichtete Bewegung unwiderstehliche Kraft annimmt und unter ihrem Andrängen dieses selbst rettungslos zusammenbricht. Mit anderen Worten – die unwiderstehliche große wirtschaftliche Krisis wird sich zu einer allumfassenden gesellschaftlichen Krisis ausweiten, deren Ergebnis die politische Herrschaft des Proletariats als der dann einzig zielbewußt revolutionären Klasse und eine unter der Herrschaft dieser Klasse sich vollziehende völlige Umgestaltung der Gesellschaft im sozialistischen Sinne sein wird.“[1]

Sagen Sie, hochverehrter und lieber Genosse, ist das die Art und Weise, in der Sie sich die soziale „Katastrophe“ denken, die früher oder später als unvermeidliches Ergebnis des Klassenkampfes sich einstellen muß? Sind auch Sie der Meinung, daß eine solche „Katastrophe“ nur das Resultat einer gewaltigen und dabei allgemeinen Geschäftskrisis sein könne? Ich glaube kaum. Ich glaube, daß für Sie der kommende Sieg des Proletariats nicht notwendig an eine akute und allgemeine Geschäftskrisis gebunden ist. Sie haben die Sache nie so schematisch dargestellt. Und, soweit ich mich erinnern kann, hat auch kein anderer sie in dieser Weise aufgefaßt. Zwar ist der revolutionären Bewegung von 1848 die Krisis von 1847 vorausgegangen. Daraus folgt aber durchaus nicht, daß ohne eine Krisis die „Katastrophe“ undenkbar sei.

Auch das ist richtig, daß zur Zeit eines starken industriellen Aufschwungs auf eine äußerste Zuspitzung des Klassenkampfes schwer zu rechnen ist. Wer bürgt uns aber für einen ununterbrochenen industriellen Aufschwung in der Zukunft? Bernstein glaubt, daß angesichts der modernen internationalen Verkehrsmittel akute und allgemeine Krisen unmöglich geworden seien. Zugegeben, es sei dem so, und die Geschäftsstockung würde, was schon 1865 der französische Ökonomist Batbie gesagt hatte, nur eine teilweise sein – „l’engorgement des produits ne sera que partiel“. Aber niemand stellt doch die Möglichkeit einer Wiederholung jener gewaltigen „trade depression“ – industriellen Depression, in Abrede, die wir soeben durchgemacht haben. Beweisen denn solche Depressionen nicht in anschaulichster und schlagendster Weise, daß die Produktivkräfte der modernen Gesellschaft ihren Produktionsverhältnissen über den Kopf gewachsen sind? Und ist es der Arbeiterklasse wirklich so schwer, den Sinn dieser Tatsache zu erfassen? Daß Perioden der industriellen Depression, indem sie Arbeitslosigkeit, Not und Entbehrungen erzeugen, geeignet sind, den Klassenkampf ungemein zu verschärfen, zeigt uns Amerika sehr deutlich.

Allen diesen Erwägungen geht Bernstein aus dem Wege. Alle unsere Erwartungen von der Zukunft macht er von einer akuten und allgemeinen Geschäftskrisis abhän

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[1] Eduard Bernstein: Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft. In: Die Neue Zeit, XVI. Jg., 1897/1898, Erster Band, S. 549.