XIII
Wofür sollen wir ihm dankbar sein?
Offener Brief an Karl Kautsky.
(Schluß.)
Der Fall Bernstein ist ungemein lehrreich für jedermann, der darüber nachdenken will, – und nur in diesem Sinne will ich mit Ihnen sagen, hochverehrter und lieber Genosse, daß Bernstein unseren Dank verdient. Die Geschichte seiner Umwandlung aus einem Sozialdemokraten in einen „Sozialpolitiker“ wird stets die ganze Aufmerksamkeit aller denkenden Köpfe in unserer Partei in Anspruch nehmen dürfen. Genosse Liebknecht erklärte diesen Übergang durch den Einfluß der englischen Zustände. „Ein Geist wie Marx“, sagte er, „mußte in dem ökonomisch vor allen anderen Ländern entwickelten England sein, um dort die Natur der kapitalistischen Gesellschaft zu studieren und sein ‚Kapital‘ zu schreiben; Bernstein aber läßt sich imponieren von der kolossalen und zu gleicher Zeit demokratischen Entwicklung der englischen Bourgeoisie.“[1] Aber ist es denn wirklich nötig, ein Marx zu sein, um in England zu leben, ohne dem Einflusse der englischen Bourgeoisie zu verfallen? In der deutschen Sozialdemokratie kann man, glaube ich, nicht wenige Genossen finden, die, trotzdem sie in England lebten, dem Sozialismus („im Sinne von Marx und Engels“) doch treu geblieben sind. Nein, die Ursache liegt nicht darin, daß Bernstein in England lebt, sondern in dem Umstande, daß er mit demselben wissenschaftlichen Sozialismus schlecht vertraut ist, den er „wissenschaftlich zu betätigen“ unternommen hat. Ich weiß, vielen wird das unglaublich erscheinen, und doch ist dem so.
In meinem Artikel „Bernstein und der Materialismus“ in der „Neuen Zeit“[2] habe ich gezeigt, wie erstaunlich gering die philosophischen Kenntnisse dieses Mannes und wie verkehrt seine Vorstellungen von dem Materialismus im Allgemeinen sind. In einem Artikel, den ich jetzt für die „Neue Zeit“ schreibe, werde ich zeigen, wie schlecht er sich die materialistische Geschichtsauffassung angeeignet hat.[3] Und jetzt bitte ich Sie, zu beachten, wie erstaunlich wenig er selbst von der Zusammenbruchstheorie, gegen die er „kritisch“ zu Felde zog, verstanden hat.
Folgendermaßen schildert er uns „die zur Zeit in der Sozialdemokratie vorherrschende Auffassung vom Entwicklungsgang der modernen Gesellschaft“.
„Nach dieser Auffassung wird früher oder später eine Geschäftskrisis von gewaltiger Stärke und Ausdehnung, durch das Elend, das sie erzeugt, die Gemüter so lei
[1] Parteitagsprotokoll Stuttgart 1898, S. 134.
[2] Siehe Georgi Plechanow: Bernstein und der Materialismus. In: Die Neue Zeit, XVI. Jg. 1897/1898, Zweiter Band, S. 545 ff.
[3] Plechanow meint vermutlich seine Artikel „Conrad Schmidt gegen Karl Marx und Friedrich Engels“. In: Die Neue Zeit, XVII. Jg., 1898/1899, Erster Band, S. 133 ff. bzw. „Materialismus oder Kantianismus?“, ebenda, S. 589 ff. und 626 ff.